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Gespräch mit Margarete Mitscherlich-Nielsen †

"Wer sich selbst verstehen will, muss sich mit seinen Prägungen auseinander­setzen."

  • Januar 2017

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Margarete Mitscherlich-Nielsen über die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis und Rollensuche weiblicher Führungskräfte

Vertrauen bringt jeder Mensch von Geburt an mit, Misstrauen dagegen wird erst erworben. Um die richtige Balance zu finden, rät Deutschlands bekannteste Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen allen Führungskräften zu mehr Selbsterkenntnis. Die bekennende Feministin zählte mit ihrem 1982 verstorbenen Mann Alexander Mitscherlich zu den tonangebenden Intellektuellen der jungen Bundesrepublik und ist selbst mit 90 Jahren noch ein kritischer Geist, der das Haupthindernis für den beruflichen Aufstieg von Frauen vor allem bei den Frauen selbst sucht, statt vorschnell die Gesellschaft als den bequemen Schuldigen hinzustellen. Ihre nicht minder kritische Freundin Alice Schwarzer sagte treffend über die Kampfgefährtin, sie habe das einmalige Talent, sich schwungvoll zwischen alle Stühle zu setzen.

Focus: Wie würden Sie als Psychoanalytikerin den Begriff „Vertrauen“ definieren?

Margarete Mitscherlich-Nielsen: Als Psychoanalytikerin kann ich das nicht, denn es ist kein psychoanalytischer, sondern ein allgemein-menschlicher Begriff.

Focus: Aber es gibt doch den Begriff des Urvertrauens?

Mitscherlich-Nielsen: Eine Art Urvertrauen bringen Kinder nach der Geburt mit. Sie haben kaum entwickelte Fähigkeiten und müssen daher mit allem versorgt werden. Also müssen sie darauf vertrauen, dass es Menschen gibt, die sich ihrer annehmen, um sie am Leben zu halten. Das ist natürlich kein bewusster Vorgang.

Focus: Was ist dann später das Erziehungsziel? Beinhaltet es, ein gesundes Misstrauen zu lehren?

Mitscherlich-Nielsen: Kinder müssen von Anfang an Vertrauen haben, sonst sind sie sehr schlecht dran. Das gesunde Misstrauen hingegen ist ohne Zweifel etwas, was man entwickeln muss, um aus Erfahrungen zu lernen. Dies geschieht mit Hilfe des langsamen Selbständigwerdens und zusammen mit der Fähigkeit, für sich selbst sorgen zu können. Das gesunde Misstrauen entsteht langsam im Verlauf der Entwicklung eines Menschen, der allmählich lernt, die Wirklichkeit zu sehen und mit ihr fertigzuwerden.

Focus: Unternehmensführer, Menschen mit großen Machtbefugnissen und mit großer Verantwortung sind oft überdurchschnittlich misstrauisch. Welche Ursachen kann das haben?

Mitscherlich-Nielsen: Der Mensch hat von Geburt an Vertrauen, das Misstrauen kommt erst später. Menschen, die grundlos misstrauisch sind, haben schon in der frühen Kindheit Erfahrungen gemacht, die sie nicht verkraften konnten. Sie haben auch nicht gelernt, dass es einem mal schlechter mal besser geht. Und sie hatten oft niemanden, mit dem sie über ihre Enttäuschungen und Verletzungen hätten sprechen können – auch nicht über ihre Enttäuschungen an sich selbst.

Focus: Wäre es sinnvoll, wenn sich Unternehmenslenker stärker mit sich selbst befassten, um bestimmte Dinge zu verstehen, durch die sie geprägt wurden?

Mitscherlich-Nielsen: Das kann ihnen außerordentlich gut tun. So könnten sie ihre eigenen Motive, die ihr Verhalten bestimmen, besser verstehen und das nicht angebrachte Misstrauen auf eine ganz bestimmte vergangene Situation zurückführen. Wer sich verstehen will, muss sich mit seinen Prägungen, mit dem, was er verinnerlicht hat, auseinandersetzen. So kann man lernen, Distanz zu sich selbst zu gewinnen. Ich habe die Psychoanalyse auch als eine Wissenschaft erlebt, die imstande ist, Menschen zu verändern. Es muss natürlich nicht gleich die klassische Psychoanalyse sein, denn die erfordert einen sehr großen auch zeitlichen Aufwand. Aber die Methoden der Psychologie können helfen, die Menschen von ihren Einengungen und zwanghaften Vorstellungen zu befreien, ihre Vorurteile über sich selbst und andere aufzuheben. So kann sich auch eine Führungskraft von der Neigung zu unbegründetem Misstrauen befreien, einen angenehmeren Umgang mit den Mitarbeitern finden und insgesamt glücklicher werden.

Focus: Es wäre also gut, wenn sich Führungspersönlichkeiten mehr für die eigene Persönlichkeit interessierten?

Mitscherlich-Nielsen: Das kann jeder Persönlichkeit nur gut tun. Therapeutische oder ganz normale Gespräche über sich selbst und die eigenen Schwierigkeiten wären gut für jeden Menschen, der menschlicher sich und anderen gegenüber sein möchte in seiner täglichen Umgebung.

Focus: Diese fatale Neigung, Autoritäten prinzipiell Vertrauen entgegenzubringen – stellen Sie die bei uns Deutschen immer noch fest?

Mitscherlich-Nielsen: Die Deutschen haben aus ihren Erfahrungen gelernt. Wir haben in Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte eine gutfunktionierende Demokratie.

Focus: Sprechen wir über ein Thema, das in Ihrem Schaffen immer eine wichtige Rolle gespielt hat, die Gleichberechtigung der Frauen. Es gibt viele Statistiken über Frauen in Führungspositionen, aber sie beziehen sich stark auf die unteren Führungsebenen, damit die Anwesenheit von Frauen in Führungspositionen überhaupt messbar wird. Wenn man aber auf die oberen Ebenen schaut, findet man nur sehr selten Frauen …

Mitscherlich-Nielsen: Immerhin haben wir eine Kanzlerin.

Focus: Ja, in der Politik sind wir schon weiter. Aber in der Wirtschaft, auf der wirklichen Top-Ebene, finden wir in der Regel nur dann Frauen, wenn sie ein Unternehmen von ihrem Vater geerbt haben.

Mitscherlich-Nielsen: Emanzipation braucht seine Zeit. Die Frauen selbst zögern, wenn es gilt, Verantwortung in der Öffentlichkeit zu übernehmen. Sie bleiben nur allzu oft bei ihren passiven Wünschen, wollen nur innerhalb eines kleinen Kreises über von ihnen abhängige Menschen herrschen. Aber bitte nicht raus, in die Öffentlichkeit, wo sie plötzlich eine ganz andere Rolle bekommen und sich ganz anders durchboxen müssen – daran sind sie nicht gewöhnt. Und sie übernehmen diese Rolle oft auch nicht, außer sie sind dazu gezwungen.

Focus: Demnach wäre die Sicht auf die Frauen als Opfer von Benachteiligung auch nicht richtig …

Mitscherlich-Nielsen: Nur teilweise, denn Männer haben Angst vor selbständigen Frauen und tun alles, um ihre eigenen Machtpositionen zu erhalten. Das Agieren in der Öffentlichkeit andererseits ist eine Rolle, die den Frauen jahrhundertelang nicht selbstverständlich zugefallen ist und die sie daher erst erlernen müssen.

Focus: Sehen Sie bei mächtigen Frauen andere Verhaltensweisen als bei mächtigen Männern?

Mitscherlich-Nielsen: Frauen in Machtpositionen nehmen eine Rolle an, die ihnen nicht auf den Leib geschrieben ist, also ahmen sie erstmal die Männer nach. Aber sie werden ihre eigene Form der Machtausübung finden. Sie bringen andere Voraussetzungen als Männer mit. Muskuläre Gewalt anzuwenden – das ist nicht Sache der Frauen. Stattdessen haben sie über Jahrhunderte hinweg gelernt zuzuhören, Schwache zu beschützen und nicht immer nur sich selbst im Recht zu sehen.

Focus: Welche Vorbilder würden Sie denn Frauen für ihr öffentliches Auftreten empfehlen?

Mitscherlich-Nielsen: Wir haben doch eines! Schauen wir uns doch mal unsere Kanzlerin an. Es haben so viele an ihrem Stuhl gesägt, bevor sie Kanzlerin werden konnte. Sie ist schlau mit allen fertiggeworden, und zwar deshalb, weil sie zuhören konnte. Sie hat nicht so intrigiert, dass es unangenehm war, sie hat nur zugehört, sie hat abgewartet. Sie hat zur richtigen Zeit ohne großes Theater in den Medien und ohne Skandale alle diese Männer zur Strecke gebracht.

Focus: „Zur Strecke gebracht“ ist aber ein Ausdruck, der sich sehr nach Macht und Kampf anhört, oder?

Mitscherlich-Nielsen: Ich genieße den Ausdruck, wenn ich ihn im Zusammenhang mit Frauen gebrauchen kann.

Focus: Sie sehen also einen anderen, positiveren Stil bei Frauen, als den, den Sie bei Männern gesehen haben?

Mitscherlich-Nielsen: Nicht unbedingt. Frauen können sehr intrigant werden, sie können sich passiv in die Lage der anderen hineinversetzen und so andere beeinflussen und dazu kriegen, bestimmte, auch negative Dinge zu tun.

Focus: Wollen Sie damit sagen, dass die Männer taktischer, unmittelbarer, schneller, mit mehr Kraft agieren, während die Frauen längerfristig-strategischer handeln?

Mitscherlich-Nielsen: … und nachdenklicher.

Focus: … das ist das Längerfristige.

Mitscherlich-Nielsen: Die Männer haben viel gelernt von den Frauen. Und natürlich haben auch die Frauen die Art der Machtausübung bei den Männern gelernt.

Focus: Wie sieht es denn mit dem Vertrauen von Frauen untereinander aus, also mit den sogenannten Netzwerken?

Mitscherlich-Nielsen: Beziehungen in der Öffentlichkeit aufzubauen, darin sind die Männer traditionell geübter. Viele Institutionen werden traditionell von Männerbeziehungen dominiert, die Kirche zum Beispiel. Der Staat wurde auch meistens von Männern regiert. Frauen müssen viele dieser Rollen erst einüben, wohingegen die Männer sie sich schon von früh an aneignen konnten. Es war selbstverständlich, dass Männer einem Beruf nachgingen, für Frauen lange nicht.

Focus: Sie haben mal so schön gesagt: „Die Zukunft ist weiblich oder es gibt sie nicht!“ Haben Sie das im wörtlichen Sinne gemeint?

Mitscherlich-Nielsen: Wir haben keine menschliche Zukunft, wenn wir nicht versuchen, andere als andere zu verstehen, ihnen zuzuhören, ihre Konflikte zu verstehen. Ohne dieses Einfühlungsvermögen werden wir große Schwierigkeiten haben, ohne es wird es immer wieder Kriege geben. Und die Gefahr besteht, dass die Menschen sich gegenseitig vernichten werden.

Das Interview mit Margarete Mitscherlich-Nielsen führten Johannes Graf von Schmettow, Egon Zehnder, Düsseldorf, und Ulrike Mertens, FOCUS.

ZUR PERSON Margarete Mitscherlich-Nielsen

Die Psychoanalytikerin und Buchautorin galt als eine der Pionierinnen der Frauenemanzipation in Deutschland und mutige Verfechterin der Demokratie. In Graasten/Dänemark geboren, war sie halb dänischer halb deutscher Abstammung. Die promovierte Medizinerin arbeitete als Analytikerin am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut und verfasste zusammen mit ihrem Mann Alexander und auch alleine Bücher („Die friedfertige Frau" und viele andere), von denen etliche große öffentliche Debatten auslösten. Ganz besonders gilt das für das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" (1967), das unter anderem die theoretische Grundlage für die Kritik der Studentenbewegung an der Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland bildete. Margarete Mitscherlich-Nielsen starb im Alter von 94 Jahren am 12. Juni 2012 in Frankfurt.

FOTOS: BARBARA KLEMM

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