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Warum Geschichte?

Der differenzierte Umgang mit der eigenen Vergangenheit ist eine mühsam errungene politische und kulturelle Leistung. Von Jürgen Osterhammel

  • April 2016

Geschichte ist so allgegenwärtig wie Zeit und Raum. Dennoch hat sich das öffentliche Verständnis über ihre Rolle und Aufgabe in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland stark verändert. Historisches Wissen ist kein Königsweg zur individuellen Charakterschulung mehr, wie es das noch im Bürgertum des 19. Jahrhunderts war. Auch der Auftrag an Geschichte und Historiker, für eine kollektive, meist nationale Identität zu sorgen, gilt inzwischen als ebenso anachronistisch wie potenziell gefährlich. Dann nämlich, wenn er zu Geschichtsklitterung und Manipulation führt. Ein Plädoyer für die Freiheit der Forschung.

Einfache Fragen sind oft besonders tückisch. „Warum Geschichte?“ scheint auf den ersten Blick eine unmögliche Frage zu sein. Dann nämlich, wenn sich das Warum auf den Existenzgrund von Geschichte überhaupt bezieht: Warum gibt es Geschichte? In diesem Falle liegt das Problem auf derselben Ebene wie: „Warum Zeit, warum Raum, warum Zukunft, warum Vergangenheit?“ Oder auch: „Warum der Mensch? Warum die Natur?“ Die Antworten darauf sind entweder von großer philosophischer, theologischer und kosmologischer Kompliziertheit und von schwer fasslichem Tiefsinn, oder sie sind schlichtweg banal. So wie wir mit Zeit und Natur leben, so umgibt uns Geschichte. Wir können ihr nicht entrinnen, uns nur zu ihr verhalten. Sie ist ein Teil unserer Lebenswelt. Auch wenn sie sich bis zu einem bestimmten Punkt ignorieren lässt, so können wir sie nicht erfolgreich wegwünschen. Auch jene Geschichte, die uns nicht passt, ist geschehen und hat oft Folgen bis in die Gegenwart. Um ein deutliches Beispiel zu nennen: Die allermeisten Deutschen, die heute leben, sind keine „Täter“, doch die (Un-) Taten der nationalsozialistischen Jahre sind alles andere als Hirngespinste und „kulturelle Konstruktionen“. Sie sind eine gewesene Realität von endloser Verpflichtungskraft.

Allgegenwärtige Vergangenheit

Dass Geschichte allgegenwärtige Vergangenheit ist, wird umso leichter einsehbar, je weiter man den Begriff der „Geschichte“ fasst. Professionelle Historiker haben ihn immer etwas enger definiert als Laien: einfach deshalb, weil sie sich unmöglich für alles Vergangene zuständig fühlen können.

Auch die Historiker verstehen seit langer Zeit unter „Geschichte“ nicht nur untergegangene Zivilisationen des Altertums und die Kriege und Staatsaktionen jüngerer Jahrhunderte. Sie untersuchen heute die Geschichte von Emotionen, Gewalt und Körperlichkeit, von Meeren, Wäldern und Tieren. Noch weiter gefasst ist die allgemeine lebensweltliche Auffassung von Geschichte: Jeder hat eine eigene Familiengeschichte, eine Krankengeschichte, eine Geschichte des Durchgangs durch die einzelnen Lebensstadien. Der Fußballfan kennt die Geschichte zumindest seines eigenen Lieblingsvereins, und kein respektabler Sportkommentator beim Fernsehen verbietet sich Rückblicke auf die Vergangenheit. Auch der Wetterbericht in den Medien, der in Deutschland mit besonderem wissenschaftlichem Ernst vorgetragen wird, ist selten eine reine Prognose. Meist beginnt er mit einem Rückblick auf längere Wettertrends, die uns eigentlich gar nicht interessieren sollten, da sie hinter uns liegen und für die Gegenwart ohne Belang sind. Was haben alle diese Geschichten gemeinsam? Sie betreffen Veränderungen in der Zeit, Wege von A nach B, Prozesse, die irgendwann in der Vergangenheit begonnen haben und oft direkt oder mit ihren indirekten Folgen in die Gegenwart hineinreichen. Teilweise formen sie auch die Zukunft vor, machen also gewisse Zukünfte wahrscheinlicher als andere. Und gemeinsam haben alle diese Veränderungen, dass sie erinnert und erzählt werden können.

In solcher Allgemeinheit stellt sich also kaum die Frage des „Wozu“. Auffällig ist ein Paradox: Während wir täglich mit Geschichte und Geschichten konfrontiert sind, grübelt kaum jemand über das philosophische Wesen der Geschichte, ihre letzten Ursprünge und ihre tiefsten Zwecke. Und wenn man dennoch so fundamental ansetzen will, dann helfen eher Philosophen als Historiker, etwa Karl Jaspers mit seinem 1949 erschienenen Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Dessen Antworten mögen zeitgebunden sein, die Fragen, die es stellt, sind es nicht.

Aber nun ein zweiter Anlauf: „Wozu Geschichte?“ kann man auch anders verstehen, nämlich als Frage nach der öffentlichen Rolle von Geschichte. Genauer: Wer argumentiert in Medien und Politik wann und auf welche Weise mit Geschichte, und wie sinnvoll ist das? Die Zeiten, in denen historische Bildung als ein Selbstzweck galt, sind längst vorbei. Historisches Wissen ist kein Königsweg zur individuellen Charakterschulung mehr, wie es das im Bürgertum des 19. Jahrhunderts war. Diesen Rang genießt es nicht mehr, auch wenn es in Deutschland immer noch ein erstaunlich breites Publikum für seriöse geschichtliche Sachbücher gibt.

Ende eines engen Bildungskanons

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war der Kanon des historisch Wissenswerten viel enger und überschaubarer als heute. Er beschränkte sich im Wesentlichen auf Griechen, Römer und die Geschichte der deutschen Nation. Mittlerweile hat sich dies radikal geändert. Man muss sich nur die Breite des Themenspektrums vor Augen führen, zu dem heute in Museen historische Ausstellungen angeboten werden. Europäische, außereuropäische und globale Themen sind keine Seltenheit mehr. Gewiss, an Aufmerksamkeit für nationale Gedenktage fehlt es nicht; schon lange haben zum Beispiel die Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum 2017 begonnen. Doch es besteht keine stillschweigende Übereinkunft mehr darüber, was Abiturienten und Gebildete von der deutschen Geschichte wissen sollten. Europäische Themen im übergreifenden Sinne, die Geschichte einzelner europäischer Nachbarn, die Geschichte von europäischer Expansion und Kolonialismus, die Geschichte der USA, des übrigen Amerika, Asiens und Afrikas, schließlich breite globale Perspektiven: All dies ist heute viel wichtiger als noch vor 30 Jahren. Deshalb ist der Auftrag an Geschichte, für eine kollektive Identität zu sorgen, die meist als nationale Identität verstanden wird, ziemlich anachronistisch geworden. Man gewinnt wenig Halt und Orientierung für die Gegenwart, wenn man sich mit nationalem Stolz an Friedrich den Großen, Bismarck und Stresemann erinnert. Politiker aller Parteien stellen sich nur zögernd in solche Traditionslinien.

Solche nationale Sinnstiftung hat ihre Übersteigerung und Perversion im Nationalsozialismus nicht überlebt. In Frankreich und England ist dies anders. In Frankreich gibt es eine lange Reihe markanter Könige seit dem Mittelalter und dann die Neugründung der Nation in der Revolution, die 1789 begann, in England eine noch gleichmäßigere Kontinuität, die 2015 durch die Feiern zum 800. Jubiläum der Magna Charta zum Ausdruck kommt. Beide Länder bilden im europäischen Zusammenhang jedoch Ausnahmen. Viel häufiger sind fragmentierte Geschichten wie diejenige Italiens, das erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zum einheitlichen Nationalstaat wurde – und dies nicht von heute auf morgen. Nicht selten waren heutige europäische Nationen über lange Zeitstrecken hinweg Teile von Imperien, etwa der Habsburgermonarchie oder des Zarenreiches. Auch die langfristige Stabilität von Grenzen war selten so groß wie in Frankreich, dem insularen Großbritannien oder dem geographisch klar umrissenen Spanien.

Die Schwierigkeiten der Deutschen mit ihrer Vergangenheit haben daher nicht nur den – zweifellos wichtigen – Grund in der verbrecherischen Phase der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945, die in der Erinnerung niemals verblassen sollte. Hinzu kommt die deutsche Normalität der territorialen Zersplitterung bis zur Reichsgründung von 1871. Es ist nicht ohne weiteres einzusehen, weshalb man sich in Baden oder Bayern langfristig mit der Geschichte Preußens identifizieren sollte und umgekehrt. Friedrich der Große war eben kein König der Deutschen, und große Teile der deutschen Staatenwelt arrangierten sich Anfang des 19. Jahrhunderts recht bequem mit der Oberhoheit Napoleons. Mit der identitätsstiftenden Leistung von Nationalgeschichte ist es deshalb aus guten Gründen in Deutschland nicht zum Besten bestellt. Die einzige nationale historische Erzählung, auf die man sich leicht einigen kann, ist die vom langen Marsch nach Westen oder – dieser Begriff beginnt sich durchzusetzen – der „Westernisierung“. Und diese Geschichte ist ein wenig trivial.

Die öffentliche Rolle von Geschichte ist deshalb längst keine nationaltherapeutische Rolle mehr. Die Historiker fühlen sich nicht länger als Diener oder Oberlehrer der Nation. Sie haben sich daran gewöhnt, dass ihnen der Staat keine inhaltlichen Vorgaben macht, wie er es noch in der DDR massiv tat. Es gibt keine Denkverbote mehr. Die Debatte unter Historikern wird nach den international gültigen Maßstäben transparenter, wissenschaftlicher Kritik geführt. An diese Zustände haben wir uns gewöhnt.

Tabus und Mythen

Man muss aber sehen, dass sie weltweit alles andere als der Normalfall sind. In vielen Ländern der Welt gibt es offizielle und staatstragende Geschichtsbilder, die von Regierungen, Einheitsparteien, systemkonformen Wissenschaftsmanagern, Zensoren und staatlichen oder offiziösen Medien propagiert werden. Wo Freiheit von Forschung und Lehre fehlt oder solche Freiheit nur auf dem Papier steht, werden auch akademische Historiker zu Handlangern obrigkeitlicher Geschichtspolitik. Offizielle Geschichtsbilder mitsamt den Tabus und Mythen, die zu ihnen gehören, stehen außerhalb jeder Kritik. Sie monopolisieren den öffentlichen Raum. Ein Argumentieren mit Geschichte, also der Austausch rational begründbarer und damit diskussionstauglicher Geschichtsdeutungen, wird unmöglich. Angebliche Nationalhelden müssen gefeiert werden; dunkle Flecken der Geschichte (wohlgemerkt: der eigenen) werden verschwiegen oder beschönigt, etwa im heutigen Russland die Gewaltexzesse der Stalin-Zeit oder in der Türkei der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Auch demokratische westliche Länder, in denen es keine staatlich sanktionierten Geschichtsdeutungen gibt, sind vor solchen Ausblendungen nicht gefeit. So hat es sehr lange gedauert, bis man die Geschichte von Sklavenhandel, Sklaverei und Kolonialverbrechen unbefangen aufgearbeitet hat. Verbreitet werden alte Feindbilder gepflegt und aufpoliert, sobald es opportun ist und für heutige Propagandazwecke genutzt werden kann, etwa in manchen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens die Kreuzzüge des Mittelalters, die den Europäern immer noch vorgeworfen werden. Besonders beliebt sind Legenden von der „ewigen“ Zugehörigkeit bestimmter Territorien zum eigenen Staatsverband, Legenden, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten würden: etwa dass die Krim schon immer zu Russland oder Tibet seit Urzeiten zu China gehört habe. Offizielle Geschichtsschreibung wird mit unterschiedlicher Konsequenz durchgesetzt: von der polizeilichen Verfolgung unabhängiger Historiker bis zur unterschwelligen Schaffung eines konformistischen Meinungsklimas. Geschichtslehrpläne und die Geschichtsbücher, die in Schulen verwendet werden, können wie ein massenhaft einsickerndes Gift wirken, wenn sie Unwahrheiten verbreiten, Einseitigkeiten übertreiben und für nationalistische Heldenverehrung missbraucht werden.

Freiheit statt Gängelung

Freiheit der Forschung und die Erwartung, dass Aussagen über Geschichte sich möglichst weitgehend an den Regeln wissenschaftlicher Beweisführung messen lassen (Geschichte ist eine empirische, aber keine „exakte“ Wissenschaft), sind für uns Selbstverständlichkeiten. Auch geht die Politik in Deutschland mit den unvermeidlichen, oft aber auch als Chance willkommenen Jubiläumsereignissen des offiziellen Gedenkkalenders verantwortlich um. Die verschiedensten Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsendes haben dies 2015 gezeigt. Solche Selbstverständlichkeiten sind freilich eine mühsam errungene politische und kulturelle Leistung. In vielen anderen Ländern der Welt gibt es nur gegängelte Forschung und manipulierte Öffentlichkeiten. Dies gilt für politische Systeme der unterschiedlichsten Art, von kommunistischen Parteidiktaturen über Militärregimes bis zu Ordnungen, in denen intolerante religiöse Orthodoxien den Ton angeben. Oft werden unter solchen Bedingungen die Historiker in den Dienst genommen, um eine „nützliche“ Vergangenheit zu beschwören und die „nationale Identität“ zu stabilisieren. Ihre wahre Aufgabe ist aber das genaue Gegenteil: kritisch und wachsam gegenüber allen Identitätsbehauptungen zu sein, hinter denen stets die Gefahr der instrumentalisierten Geschichtsklitterung lauert. Wozu Geschichte? Nicht für kollektive Wellness-Erlebnisse, sondern für Aufklärung darüber, woher wir kommen.

Jürgen Osterhammel

63, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Der Historiker gilt als einer der führenden Vertreter der Globalgeschichte. In seinem 2009 erschienenen Buch Die Verwandlung der Welt beschäftigte sich Osterhammel mit der Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts. Das Werk wurde in Fachwelt und Öffentlichkeit begeistert aufgenommen und erhielt als bestes Sachbuch des Jahres den NDR Kultur Sachbuchpreis. 2010 wurde Osterhammel mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.

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