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Die offene Stadt – divers, integrativ, sozial

Weltweit leben heute mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land – Tendenz stark steigend. In Deutschland sind sogar 74 Prozent der Bevölkerung Städter.

  • Januar 2017

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Städte sind verdichtete Orte menschlichen Zusammenlebens. Daraus ergeben sich einerseits enorme Chancen: In der Wissensgesellschaft ist die hohe Dichte an Menschen – und damit an Ideen – Quelle für technologische, gesellschaftliche und politische Innovation. Andererseits schafft diese Dichte soziale und ökologische Brennpunkte. Aufgabe von zukunftsfähiger Stadtentwicklung ist es, die Stadt lebenswerter – also offener, inklusiver und nachhaltiger – zu gestalten. Neben der Bereitstellung von Infrastruktur und Arbeit muss sie dazu vor allem zwei Dinge leisten: Sie muss Identität und Heimat stiften. Und sie muss der Vielfalt städtischen Lebens Raum verschaffen sowie soziale Inklusion fördern.

Von Tobias Leipprand und Oliver Seidel

Städte waren schon immer mehr als wirtschaftliche Zentren mit dichter Infrastruktur. Im besten Fall stiften sie Identität über eine funktionierende Stadtgemeinschaft, die sozialen Halt bietet und dabei Raum für vielseitige Lebensmodelle und (Sub-)Kulturen lässt.

Diese Balance gelingt nicht immer. Die Architekten und Stadtplaner der klassischen Moderne der 1920er bis 1950er Jahre setzten auf große „Wohnmaschinen“ als Mittel zur Schaffung sozialer Mindeststandards und auf eine klare funktionale Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Das Ergebnis: Entfremdung, eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten von Individualität und eine starke Abhängigkeit vom Auto. Le Corbusier, der wohl bekannteste Vertreter dieser Architekturströmung, plante sogar, ganze innerstädtische Viertel von Paris durch funktionalistische Neubauten zu ersetzen. Noch heute werden in vielen Schwellenländern, etwa in China, nach diesem Prinzip Trabantenstädte gebaut – effiziente, dabei aber anonyme Lebensräume, die ihren Bewohnern weder ein Gefühl von Heimat oder Zugehörigkeit vermitteln noch ihnen die Möglichkeit bieten, sich aktiv zu verorten.

Dabei wächst in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung unter Städtern gerade das Bedürfnis nach Verortung und Zugehörigkeit. In einer Umfrage der Hamburger Sozialbehörde stuften 88 Prozent der befragten Hamburger den Begriff Heimat als „wichtig“ oder „sehr wichtig“ ein. Und auch der „Spiegel“ titelte kürzlich mit der Frage „Was ist Heimat?“. In Berlins angesagten Gegenden sind österreichische, bayerische und schwäbische Restaurants im Trend. Die Bäckerei im Kiez kommt wieder, und der Hipster holt sich Heimatikonen – Hirschgeweih & Co. – in neuem Design in die Wohnung zurück.

Sozialer Zusammenhalt droht zu zerfallen

Stadt muss mehr leisten, als Identität zu stiften. Der demografische Wandel, die Pluralisierung von Lebensstilen und Kulturen sowie die wachsende soziale Ungleichheit verändern die Stadtgesellschaft von Grund auf. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung schrumpft in Deutschland seit den 1990er Jahren die Mittelschicht, während die Spitzeneinkommen steigen. In der Stadt führt dies zu Gentrifizierung, zur Verdrängung Geringverdienender aus den attraktiven zentrumsnahen Stadtteilen. Die dort gewachsenen Strukturen drohen zu zerfallen – und damit der Zusammenhalt der Stadtgesellschaft.

Zahlreiche Forschungen belegen, dass wachsende Ungleichheit zulasten aller geht: Auch Reiche verlieren an Lebensqualität, wenn sie ihre Villen mit Stacheldraht umzäunen müssen. Als in Paris 2005 die Vorstädte brannten, blieb Marseille trotz der höchsten Migrantendichte Frankreichs weitgehend verschont. Einkommensunterschiede zwischen Zentrum und Peripherie sind hier geringer, die soziale Durchmischung ist stärker, Netzwerke sind belastbarer, dies zeigen Untersuchungen der US-amerikanischen Brookings Institution von 2005.

Geringere Einkommensunterschiede und ausgeprägte Diversität korrelieren direkt mit einem Plus an Gesundheit, Lebenserwartung und Bildung über alle Schichten hinweg sowie mit einer niedrigen Kriminalitätsrate. In der durchmischten Stadt kommt es auch zu mehr sozialer Interaktion, was wiederum Voraussetzung für eine rege Bürgerbeteiligung ist.

Zeit für den Nahraum

Wollen wir unsere Städte heute lebenswerter und inklusiver gestalten, so müssen wir näher heranzoomen: Der sogenannte Nahraum, ein kleines Viertel, bestehend aus ein paar Straßenzügen mit etwa 3 000 Einwohnern, kann zur Heimat in der Stadt werden. Arbeit, Erholung, Wohnen, Einkaufen – alles an einem Ort. Nachbarschaft und soziales Netz inklusive.

In der modernen Stadtforschung hat man den Nahraum als effektiven Wirkungsrahmen erkannt. Ein funktionierender Nahraum erhöht die Lebensqualität seiner Bewohner massiv und bietet zahlreiche weitere Vorteile.

Er entlastet beispielsweise die Verkehrsadern der Stadt und senkt Lärm und Schadstoffausstoß: Wer in seinem Viertel lebt, arbeitet und sich erholt, ist weniger unterwegs. Auch der demografische Wandel gebietet einen funktionierenden Nahraum, da sich der Mobilitätsradius der Bevölkerung verkleinern wird. Alte Menschen sind noch stärker auf eine funktionierende Infrastruktur – Erholung, Einkaufen, Begegnung, Kultur – in nächster Nähe angewiesen.

Ein funktionierendes Stadtviertel ist zudem wirtschaftlich leistungsfähiger. Unternehmen und stadtaffine Industrien profitieren von den kreativen und wirtschaftlichen Leistungsträgern am Arbeitsmarkt, die durchmischte, dabei aber stabile Quartiere anziehen.

Gerade die so wichtige soziale Inklusion lässt sich im Nahraum am besten realisieren. Im kleinen Viertel, in dem die Anonymität der Großstadt durchbrochen wird, fassen Vereine und zivilgesellschaftliche Organisationen viel leichter Fuß. Denn Bürger interessieren sich zuallererst für Themen vor Ort – seien es die Öffnungszeiten des Schwimmbads, der Durchgangsverkehr oder die Schulsituation.

Der von Gewalt und Vandalismus geprägte U-Bahnhof Eichbaum wird Oper und Treffpunkt.

An der Grenze zwischen Essen und Mülheim im Ruhrgebiet liegt die U-Bahn-Haltestelle Eichbaum zwischen mehreren Autobahnen in einer normalerweise tristen und von Spannungen geprägten Siedlung. 2009 wurde die Station temporär zur urbanen Oper. Vor Ort richtete man ein Projektzentrum mit Workshopraum, Café und Bar ein. Gemeinsam mit den Anwohnern entwickelten Künstler und Komponisten gemeinsam die Produktion: „Zwischen Beton, Gitterstäben und Graffiti erklingen neue Arien und Geschichten, Orchester und Chöre, die von den Menschen neben uns erzählen. Sie verraten, wovon sie träumen und worauf sie warten.“

Aufgabe von Stadtverwaltung, aber auch von Förderprogrammen auf Landes- und Bundesebene muss es sein, sich mit Organisationen, religiösen Gemeinschaften und Initiativen zu verzahnen, um Projekte wie die Eichbaumoper zu unterstützen – Projekte mit lokaler Verwurzelung, die über Schichten, Ethnien oder Kulturen hinweg vernetzen und Brücken bauen.

Gepflegte Plätze, Parks und Kultureinrichtungen sind für das Viertel von großer Bedeutung. Als Orte öffentlichen Lebens erlauben sie ein Zusammenwachsen der urbanen Gemeinschaft – gerade auch in sozial schwächeren Gegenden. Genau wie die Eichbaumoper zeigen Beispiele aus Rio de Janeiro in Brasilien oder Tirana in Albanien, dass öffentliche Einrichtungen nicht zum Opfer von Vandalismus werden müssen. Im Gegenteil: Wenn man sie gemeinsam mit den Bürgern gestaltet, werden sie gepflegt und tragen zur Identitätsbildung bei. Auch in Europa gibt es viele positive Beispiele. Der frühere Kopenhagener Industriehafen etwa ist heute „blaues Herz“ mit Bademöglichkeiten, Skateparks und Grillplätzen – Natur, Erholung und Treffpunkt mitten in der Stadt.

Bewohner verstärkt beteiligen

Für die Aufgaben der Zukunft braucht die Stadt eine starke Zivilgesellschaft. Herausforderungen wie demografischer Wandel, soziale Spannungen oder Integration können nur durch Bürger und Stadtregierung gemeinsam erfolgreich angegangen werden. Durch die Arbeit von engagierten Bewohnern, Religionsgemeinschaften, ansässigen Firmen und Geschäften sowie Vereinen entsteht wertvolles Sozialkapital für den Stadtteil und damit für die Stadt.

Dabei fordern Bürger heute mehr Transparenz bei politischen Entscheidungsprozessen, Möglichkeiten zur Beteiligung und ein flexibles Eingehen auf ihre Wünsche. Gerade in ihrer direkten Nachbarschaft bringen sie sich stark in politische Prozesse ein, das hat etwa Stuttgart 21 gezeigt. Es braucht also Wege der Mitgestaltung.

In New York City formierte sich 1999 die Bürgerbewegung „Friends of the High Line“, um den bereits genehmigten Abriss der alten Hochbahn (High Line) im Westen Manhattans zu verhindern. Zusammen mit der Stadt New York wandelte sie die 2,3 Kilometer lange Trasse in einen urbanen Park um. Der zweite von drei Bauabschnitten wurde im Sommer 2011 eröffnet. Im dichten Manhattan ist die High Line wertvoller Grünraum, kultureller Treffpunkt, Zeugnis der lokalen Geschichte – und sie schafft eine neue fußläufige Verbindung zwischen mehreren Quartieren.

Die brasilianische Stadt Recife bindet ihre Bürger über Bürgerhaushalte in Ausgabenentscheidungen zur Schul- und Stadtentwicklung ein. Dafür erhielt die Stadt 2011 den Reinhard Mohn Preis. In Deutschland gibt es Bürgerhaushalte in Freiburg, Leipzig, Köln und vielen weiteren Städten.

Die offene Stadt ist keine Utopie

Unsere Städte zukunftsfähiger und lebenswerter zu machen ist keine leichte Aufgabe. Die genannten Beispiele stimmen aber optimistisch. Gelingen kann das Ganze nur, wenn die unterschiedlichen Akteure gemeinsam zu einem konstruktiven Dialog finden. Dazu brauchen sie die Möglichkeit, sich ihren Stadtraum anzueignen.

Zentralistische und mechanistische Stadtplanung am Reißbrett gehört damit der Vergangenheit an. Wer heute Stadt gestalten und Stadtgemeinschaft aufbauen will, der muss vor Ort und im kleinen Umfeld – im Nahraum – das Gespräch suchen. Bringen Politik, Verwaltung und ansässige Unternehmen diese Aufgeschlossenheit mit und hören sie den Bewohnern zu, dann können sich unverwechselbare städtische Inseln entwickeln, die geprägt sind von Offenheit, Inklusion, Kreativität und Wirtschaftskraft. Und die sich vor allem durch eines auszeichnen: durch eine hohe Lebensqualität.

REPROGRAMMING THE CITY

Die stiftung neue verantwortung, ein interdisziplinärer Thinktank mit Sitz in Berlin, ging in einem Workshop unlängst der Frage nach, wie eine sinnvolle „Reprogrammierung“ deutscher Städte aussehen könnte. Die Autoren des vorliegenden Beitrags waren maßgeblich an der Erarbeitung von Handlungsempfehlungen in zehn Gestaltungsfeldern beteiligt.

Tobias Leipprand, Mitglied des Vorstands der stiftung neue verantwortung, betreut unter anderem Projekte zur nachhaltigen Stadtentwicklung und zur Führungskultur in Deutschland.

Oliver Seidel ist Mitbegründer und geschäftsführender Partner vonCITYFÖRSTER architecture + urbanism. Als Architekt und Stadtplaner referiert er, außerdem berät er den öffentlichen Sektor, Unternehmen, Organisationen und Initiativen zu zukunftsfähigen urbanen Lebenswelten.

FOTOS: GUNTRAM WALTER, RAINER SCHLAUTMANN, IWAN BAAN

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