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Trauen Sie sich, nicht der Beste zu sein?

Die Ausschöpfung des persönlichen Potenzials erfordert, sich auf Unbekanntes einzulassen.

  • Januar 2017

Je erfolgreicher wir sind, desto anfälliger werden wir für unflexible Sichtweisen im Hinblick auf unsere Arbeit und – noch wichtiger – im Hinblick auf uns selbst. Der Erfolg steht unserem Potenzial im Wege. Aus dieser Falle kommt man nur schwer heraus, da die Alternativen selten klar ersichtlich sind und viel auf dem Spiel steht.

Von Herminia Ibarra

Warum wachsen manche Führungskräfte kontinuierlich an ihren Aufgaben, entfalten sich und meistern immer schwierigere Herausforderungen, während ebenso fähige Kollegen jahrelang in Jobs ihre Zeit vergeuden, die sie auch im Schlaf erledigen könnten? Meine Untersuchungen wie Menschen sich am Arbeitsplatz neu definieren, haben einige eindeutige Antworten auf diese Frage erbracht; andere fielen dagegen jedoch recht widersprüchlich aus.

Zum Beispiel kann Erfolg uns darin hindern, unser Potenzial wirklich auszuschöpfen. Warum? Menschen neigen dazu, immer wieder das zu tun, was sie gut können. Wir geben unseren erwiesenen Stärken den Vorzug, weil wir davon ausgehen können, angestrebte Ziele auch zu erreichen. Umgekehrt tendieren wir dazu, uns nicht für Dinge zu engagieren, die wir gegenwärtig (noch) nicht beherrschen. Dies hat zur Folge, dass wir nie gut genug werden, um entsprechende Herausforderungen zu meistern – und deshalb bei der Überzeugung bleiben, dass solche Unterfangen reine Zeitverschwendung sind. Manager, die hauptsächlich wegen herausragender operativer Leistungen Karriere machen, übernehmen häufig auch dann noch operative Aufgaben, wenn sie diese längst delegieren könnten. Diese Manager sind so sehr mit der Frage „Wie kann ich meine Arbeit noch besser machen?“ beschäftigt, dass ihnen kaum Zeit bleibt, sich zu fragen: „Könnte ich auch etwas anderes machen?“ Das Problem besteht also nicht darin, dass wir nicht in der Lage wären, uns neue Kenntnisse anzueignen und unsere Fähigkeiten kontinuierlich weiterzuentwickeln – was natürlich Grundbedingung für die Ausschöpfung unseres Potenzials ist –, sondern darin, dass wir nicht in vollem Umfang verstehen, wie wertvoll das Betreten unbekannten Terrains ist.

Diese Denkhaltung hält sich beharrlich – und war noch nie so hinderlich wie heute. Wirtschaftsumfelder verändern sich heute schnell und tief greifend. Das hat zur Folge, dass sich auch die Erwartungen an Führungskräfte kontinuierlich verändern, selbst wenn Stellenbezeichnung und Verantwortungsbereich auf dem Papier gleich bleiben. Das Resultat? Viele Menschen werden immer besser im falschen Job, da sie nicht aktiv bemüht sind, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Doch selbst wenn Sie selbst sich in der eher ungewöhnlichen Situation befinden, dass Veränderungen des Umfelds keine große Bedeutung haben, kann eine zu starke Konzentration auf frühere Erfolgsfaktoren Sie daran hindern, in der Zukunft neue, wichtigere und erfüllendere Aufgaben zu übernehmen. Der Todesstoß für unser Potenzial besteht darin, dass wir uns Ziele setzen, die auf vergangenen Leistungen aufbauen, und uns nicht im Klaren darüber sind, dass es gilt, immer neue Ziele zu finden.

Erst handeln, dann denken

Wie setzt man sich neue Ziele? Richard Pascale hat weise festgestellt: „Erwachsene kommen eher durch Handeln zu einer neuen Denkweise als durch Denken zu einer neuer Handlungsweise.“ Wenn Sie jemals bei einer neuen Aufgabe ins kalte Wasser geworfen wurden und Aufgaben übernehmen mussten, mit denen Sie nicht vertraut waren, dann wissen Sie, dass Pascale Recht hat: Ungewohnte Herausforderungen meistern zu müssen, hat Sie vermutlich spürbarer und nachhaltiger verändert, als bloßes Sitzen und Nachdenken dies je vermocht hätten. Nicht Reflexionen, sondern Erfahrungen haben die Kraft, unser Weltbild neu zu formen und unsere Vorstellung davon zu verändern, zu was wir fähig sind und was zu tun sich lohnt. Trotzdem greifen viele Menschen bei der Definition neuer Ziele auf die Selbstanalyse zurück – ein Ansatz, der von Natur aus die Einschätzung des eigenen Potenzials einschränkt.

Wenn Sie sich schnell und dynamisch weiterentwickeln möchten, dann müssen Sie der Selbstanalyse Taten folgen lassen. Wechseln Sie als erstes das Umfeld und suchen Sie die Interaktion mit vielen unterschiedlichen Menschen. Lassen Sie es zu, dass die neuen, herausfordernden Erfahrungen und Resultate die gewohnten Denkmuster verändern, die derzeit noch Ihre Grenzen definieren. Erst dann sollten Sie neue Ziele setzen.

„Außenansichten“ suchen

Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten von uns, wenn wir uns selbst überlassen sind, Netzwerke aus Gleichgesinnten vorziehen. Wir bevorzugen die Zusammenarbeit mit Leuten, die wir bereits kennen. Neue Ideen präsentieren wir lieber den üblichen Verdächtigen und ignorieren oder missachten die Sichtweisen von Menschen außerhalb unseres vertrauten Kreises. Ein Teil des Fortbildungsprogramms „The Leadership Transition“, das ich am INSEAD unterrichte, besteht darin, dass jeder Teilnehmer analysiert, mit wem er regelmäßig kommuniziert und wen er um Rat fragt. Diese Analysen zeigen jedes Jahr aufs Neue, dass die Teilnehmer fast ausschließlich mit Leuten zu tun haben, die ihnen in ihrem aktuellen Job helfen können – und mit nahezu niemandem, der sie anspornt, sich und ihre Tätigkeit neu zu definieren und ihr Potenzial besser auszuschöpfen.

Nachdem die Analyse diese Tatsache eindeutig unterstrichen hat, ermutige ich Führungskräfte, aktiv „Außenansichten“ – also neue, ihnen bisher unbekannte Standpunkte – einzuholen, um ihre Perspektive tatsächlich zu erweitern. In Wahrheit kann man nur dann ein strategisches Gespür für die eigene Entwicklung und seinen zukünftigen Platz in der Welt entwickeln, wenn man sich über lieb gewonnene und bequeme Grenzen hinwegsetzt und mit Menschen Ideen austauscht, die die Herausforderungen, vor denen man steht (oder bald stehen wird), aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachten.

Den Mut haben, nicht der Beste zu sein

Die Erweiterung des eigenen beruflichen Netzwerks erfordert viel Mut – und noch mehr Mut wird benötigt, wenn man sich Herausforderungen stellen will, bei denen frühere Erfolge für das eigene Selbstbewusstsein wertlos sind. Trauen Sie sich, nicht der Beste zu sein?

Bei seiner derzeitigen Tätigkeit Höchstleistungen zu erbringen, ist ganz ohne Zweifel sehr wichtig. Doch die Forschung hat gezeigt, dass eine zu starke Konzentration auf die Erfüllung aktueller Ziele dazu führt, dass man hauptsächlich Dinge tut, von denen man weiß, dass man darin gut ist. Oftmals sind das aber nicht notwendigerweise die Fähigkeiten, die in der nächsten Position oder in einem sich verändernden Umfeld gefragt sind. Die Alternative? Stellen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit nicht nur die Erfüllung bestehender Ziele in den Vordergrund, sondern schaffen Sie sich genügend Freiraum für das Experimentieren in Bereichen, in denen Sie Ihre Kompetenz noch nicht unter Beweis gestellt haben. Zu den bewährten Taktiken gehören das Engagement in Wirtschaftsverbänden, gemeinnützige Arbeit in Tätigkeitsfeldern, die sich nicht mit den erwiesenen Stärken decken (Sie könnten sich beispielsweise im Fundraising versuchen), oder der Eintritt in ein Cross-Functional-Team Ihres Unternehmens. Aber warum hier schon aufhören? Strengen Sie noch ein wenig mehr an. Wenn Sie sich selbst in Situationen begeben, in denen niemand eine vorgefasste Meinung über Sie und Ihre Fähigkeiten hat, dann haben Sie eher die Freiheit, sich in verschiedenen Rollen zu testen. Jede neue Herausforderung ist ein Anfang bei null. Manchmal werden Sie zu kämpfen haben oder sogar scheitern – doch das, was Sie über sich und Ihre versteckten Fähigkeiten lernen, wird Ihnen die Augen öffnen und den Effekt nur verstärken. Neue Erfahrungen werden Ihr Selbstbild beeinflussen und Sie gleichzeitig empfänglicher machen für unbekannte Herausforderungen, die Sie wiederum weiter verändern können. Auf diese Weise werden Sie sich immer neu und ganz ohne Scheuklappen damit auseinandersetzen, was Sie zum Großen und Ganzen beitragen können und wollen. Erst dann sind Sie wirklich bereit für neue Ziele.

Wenn man auf „Außenansichten“ setzt und den Mut aufbringt, nicht der Beste zu sein, ist das Festlegen neuer Ziele nicht länger ein alljährliches Ritual der Selbstreflexion, sondern entwickelt sich zu einem kontinuierlichen Prozess, bei dem man sich immer weiter nach oben streckt. Grundlegend dafür sind Wissen und Selbstbewusstsein – beides kann man nur durch intensive und vielseitige praktische Erfahrungen erlangen.

Weg mit falschen Barrieren

Aus der oben beschriebenen Perspektive betrachtet, lässt sich schnell erkennen, dass viele Unternehmen ihre Führungspersönlichkeiten ungewollt bremsen. Das Ziel der meisten Entwicklungsprogramme besteht darin, Führungskräfte im Erkennen und effektiven Einsatz ihrer wichtigsten Stärken zu unterstützen. Die damit einhergehenden positiven Leistungsbeurteilungen, Gehaltserhöhungen und Beförderungen basieren darauf, wie nachhaltig sich Führungskräfte für ihre aktuellen Zielvorgaben und deren Erfüllung engagieren.

Selbstverständlich ist das ein wirksames Vorgehen, um herausragende Einzel- und Unternehmensleistungen zu erzielen. Doch wie sieht es mit der Ausschöpfung des tatsächlich vorhandenen Potenzials aus? Der oben beschriebene Prozess setzt ein kontinuierliches Überdenken voraus: Seine Arbeit überdenken. Sich selbst überdenken. Die eigenen Ziele überdenken. Und zwar kontinuierlich und in allen Bereichen. Das ist anstrengend – auch ohne Systeme und Vorgesetzte, die einen drängen, sich ans „Drehbuch“ zu halten. Wenn junge Führungskräfte mit dem Ausbau ihres Netzwerks beginnen und nach neuen Erfahrungen Ausschau halten sollen, die für ein erfolgreiches Überdenken notwendig sind, fühlen sie sich dabei oft unwohl. Eine innere Stimme protestiert: „Ich bin doch kein Schwafler, der herumläuft und jeden kennen lernen will.“ Oder: „Natürlich hört sich direkter Kundenkontakt interessant an. Aber ich weiß einfach, dass ich hinter den Kulissen besser aufgehoben bin.“ Das etablierte Bild unserer Person und unserer Arbeit kann sich zu einem starken Schutz vor einer bedeutsamen persönlichen und beruflichen Entfaltung entwickeln.

Vielen Unternehmen muss man jedoch zugutehalten, dass sie sich sehr dafür einsetzen, jungen Führungspersönlichkeiten solche falschen Barrieren aus dem Weg zu räumen. Dies geschieht vor allem, indem sie Jobrotationen fördern. Junge Führungskräfte können sich so unvermittelt in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern oder Ländern wiederfinden, in denen sie entweder im Linien- und Mitarbeitermanagement ihr Können unter Beweis stellen oder bei eingeschränkter direkter Verantwortung in einer Matrix-Organisation führend tätig werden müssen. Im besten Fall zwingen solche Rotationen aufstrebende Führungspersönlichkeiten, neue Netzwerke, neue Interaktionen und neue Erkenntnisse zu suchen, die befreiend wirken und ihre Denkmuster und ihr Selbstbild erweitern. Allerdings haben nur relativ wenige junge Führungskräfte Zugang zu solchen radikalen neuen Erfahrungen. Die meisten verbringen den Großteil ihrer Zeit mit dem, was sie eben am besten können – und mit wenig anderem. Wenn Unternehmen sich dieser Tatsache bewusst werden, sollten sie sich fragen: „Wie viel Potenzial lassen wir eigentlich brachliegen?“

Mentoring-Programme könnten ebenfalls viel stärker dazu beitragen, aufstrebende Führungspersönlichkeiten bei der Ausschöpfung ihres Potenzials zu unterstützen, als dies im Augenblick der Fall ist. Viele Mentoren beschränken ihre Rolle darauf, ihren Schützlingen dabei zu helfen, Stärken zu erkennen und effektiv einzusetzen. Folglich ist ihre Sichtweise recht begrenzt. Sie ermutigen die Mentees, ihren eigenen Stil zu entwickeln und herauszufinden, „wo es hingehen soll“, um dann die einzelnen linearen Schritte festzulegen, die den Schützling zum Ziel führen. Selten gibt es Mentoren, die ihre Mentees drängen, sich gezielt auf Unbekanntes einzulassen. Es scheint, als hätten erfolgreiche Senior Leader ganz vergessen, welche Erfahrungen sie selbst auf dem Weg nach oben gemacht haben – insbesondere in Situationen, in denen sie kein Land mehr sahen, sich selbst durchbeißen mussten und dabei ihre wertvollsten Erfahrungen sammelten.

Natürlich ist es wichtig, einen Karriereplan zu definieren, der auf den eigenen, nachgewiesenen Stärken beruht. Doch darüber hinaus können Mentoren ihren Mentees dabei helfen, ihr Potenzial besser zu entfalten, indem sie ihnen provokative Fragen stellen und sie auf diese Weise zwingen, ihre Schutzzone zu verlassen: „Was verändert sich bei der Arbeit, die Sie zurzeit ausüben?“, „Was unternehmen Sie, um sich anzupassen?“, „Was machen Sie momentan, das Sie vorher noch nie gemacht haben?“, „Worauf achten Sie und weshalb?“, „Haben Sie genug Informationen, um die übergreifenden Zusammenhänge Ihrer Arbeit zu verstehen? Und die unserer Branche? Und unseres Wirtschaftssystems? Und der Welt?“ Mentoren können den ihnen anvertrauten Führungskräften zeigen, wie man ein wirklich effektives Netzwerk aufbaut, und sie ermutigen, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen. Wenn mehr Mentoren der Überzeugung wären, dass die aktive Nutzung des eigenen Talents kein „Extra“ ist, sondern ein essenzieller Bestandteil der Aufgaben jeder aufstrebenden Führungspersönlichkeit, dann würden sich mehr Schützlinge zu strategisch versierten, vielseitigen und selbstsicheren Führungskräften entwickeln.

Übernehmen Sie Verantwortung

Im Zeitalter der Ressourcenknappheit hat sich ein großer Teil der Verantwortung für die Weiterentwicklung von Führungspotenzial vom Unternehmen zum Einzelnen verlagert. Kleinere Budgets, weniger Programme, der zunehmende Druck, sofort Ergebnisse zu liefern, unsichere Arbeitsplätze und weniger Freizeit scheinen uns davon abhalten zu wollen, herauszufinden, wer wir sein und was wir erreichen könnten.

Gleichzeitig werden wir in unserem Arbeitsumfeld immer häufiger mit der Perspektive (und oft der Realität) radikaler Veränderungen konfrontiert. Sich einfach auf dem jetzigen Posten mitziehen zu lassen, so als sähe das Morgen genauso aus wie das Heute, könnte einem als sichere Strategie erscheinen. Aus objektiver Sicht zeigt sich jedoch, dass dies eine ziemlich gefährliche Herangehensweise ist.

Was können Sie tun, wenn Sie Stillstand ablehnen, Ihnen Ihr Unternehmen jedoch nur beschränkte Möglichkeiten zur Selbsterforschung und Entwicklung bietet? Da gibt es nur eine Antwort: Übernehmen Sie die Verantwortung für Ihr Potenzial! Sehen Sie ein, dass große Veränderungen in Ihrer Rolle sich nicht immer in Form einer neuen Stellenbezeichnung ankündigen. Seien Sie wachsam und achten Sie darauf, was in Ihrem Umfeld passiert. Erweitern Sie Ihr Netzwerk, um Ihren Bezugsrahmen weiter zu stecken. Stellen Sie sich ganz neuen Herausforderungen, die Ihnen die Freiheit geben, zu erfahren, was Sie als Führungskraft wirklich leisten können. Gehen Sie dorthin, wo Sie nicht genau wissen, was auf Sie zukommt oder wie Sie die Situation meistern. Lassen Sie sich darauf ein und sehen Sie, was passiert.

Das erfordert Engagement und Mut. Doch wenn Sie selbst Ihr Führungspotenzial nicht ausschöpfen, wer dann?

Herminia Ibarra

Herminia Ibarra ist Professorin für Organizational Behavior und „The Cora Chaired Professor of Leadership and Learning“ am INSEAD, Paris. Vorher lehrte sie 13 Jahre lang an der Harvard Business School. Professorin Ibarra ist Expertin für Führungskräfteentwicklung und hat zahlreiche Beiträge in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht. Die gebürtige Kubanerin erhielt ihren Master of Arts und ihren Ph. D. an der Universität Yale, wo sie National Science Fellow war.

FOTO: ROBERTO FRANKENBERG

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