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Interview mit Henryka Bochniarz

„Wir kämpfen um mehr als nur eine bestimmte Anzahl von Plätzen am Tisch. Was wir wollen, ist eine neue Mentalität, eine neue Form des Arbeitens.“

  • Januar 2017

 

 

Es gibt wenige, deren Lebensweg so vielfältig verlaufen ist wie der von Henryka Bochniarz – die Unternehmerin war polnische Ministerin und Präsidentschaftskandidatin in ihrem Land, Mitbegründerin eines Frauenkongresses und ist heute Vorsitzende des wichtigsten Arbeitgeberverbands in Polen sowie Mitglied mehrerer Aufsichtsräte. Mit FOCUS sprach sie über ihren Kampf für eine Pluralität des Denkens.

Focus: Sie hatten bereits in mehreren Bereichen Führungspositionen inne und haben sowohl auf privater Ebene wie auch im Hinblick auf Politik und unternehmerische Verantwortung für mehr Diversität gekämpft. Was sind die schlagenden Argumente, mit denen Sie die Bedeutung von Diversität untermauern?

Henryka Bochniarz: Die Globalisierung hat uns in hohem Maße bewusst gemacht, dass es unterschiedliche Weltbilder, Arbeitsweisen und Ideen gibt und dass diese für fast jede Unternehmung eine Bereicherung darstellen können – sei es bei der Bildung oder in Politik und Wirtschaft. Es gibt keine allgemeingültige, perfekte Art und Weise, an eine Aufgabe heranzugehen, keinen universellen Standard, der alle anderen Sichtweisen ablöst. Menschen und Institutionen, die nicht offen sind für die Vielfalt von Menschen und deren Ideen, werden schlichtweg nicht in vollem Maße von den Möglichkeiten profitieren können, die diese Welt bereithält.

„Institutionen, die nicht offen sind für die Vielfalt von Menschen und deren Ideen, werden schlichtweg nicht in vollem Maße von den Möglichkeiten profitieren können, die diese Welt bereithält.“

Focus: Angesichts Ihrer breiten Erfahrungen: Würden Sie sagen, dass manche Bereiche sich dieser Art der Vielfalt mehr geöffnet haben als andere?

Bochniarz: Was die Geschlechtervielfalt angeht, sind bestimmte Bereiche, wie zum Beispiel die Finanzdienstleistungsbranche, immer noch stark männlich dominiert. Erklärlicherweise waren für Männer besonders die Branchen attraktiv, die besonders viel Macht versprachen – und genauso nachvollziehbar versuchen Frauen jetzt, in diese geschlossenen Kreise einzubrechen.
Auf der anderen Seite gibt es definitiv auch Bereiche, in denen Frauen in der Überzahl sind – was allerdings nicht bedeutet, dass sie dort mehr Macht hätten. Beispielsweise ist der Lehrberuf in den unteren Stufen in Polen und vielen anderen Ländern nahezu eine reine Frauendomäne. Geleitet werden die Schulen jedoch von Männern. Das heißt also: Selbst wenn es anteilig wesentlich mehr Frauen gibt, ändert dies nichts an der tatsächlichen Machtverteilung.

Focus: Sie sind Mitbegründerin des polnischen Frauenkongresses, der 2009 ins Leben gerufen wurde – am 20. Jahrestag des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs in Ihrem Land. Der Kongress repräsentiert heute in Polen die größte unpolitische gesellschaftliche Bewegung, die sich für Chancengleichheit im privaten wie im öffentlichen Bereich einsetzt. Ist die heutige Größe des Kongresses ein Zeichen dafür, dass der Trend zu mehr Diversität nicht mehr aufzuhalten ist?

Bochniarz: Die Diversität ist zweifelsohne auf dem Vormarsch – und der Kongress konnte eindrucksvolle Zuwächse verzeichnen. Es ist uns gelungen, das polnische Parlament zur Verabschiedung eines „Quotengesetzes“ zu bewegen. Dieses schreibt vor, dass jedes Geschlecht bei Kandidaten auf Wahllisten mit mindestens 35 Prozent vertreten sein muss, und zwar sowohl auf lokaler Ebene wie auch bei den Wahlen für das polnische Unterhaus und das Europäische Parlament. Der wichtigste Erfolgsmaßstab ist jedoch die Art und Weise, wie Frauenfragen unter Frauen und mit Frauen diskutiert werden. Vor einigen Jahren wurden diese Themen noch belächelt, aber heute ist das nicht mehr der Fall – sie werden sogar sehr ernst genommen.

Focus: Im März hat das Europäische Parlament erneut seinen Entschluss bekräftigt, eine Erhöhung des Frauenanteils in den Führungsgremien von Unternehmen durch Quotenregelungen zu erwirken, wenn dies mit Maßnahmen auf nationaler Ebene nicht gelingt. Wie steht man innerhalb der polnischen Konföderation privater Arbeitgeber LEWIATAN, deren Vorsitzende Sie sind, zum Thema Quotenregelung?

Bochniarz: Nach intensiven internen Diskussionen unterstützen wir das Vorhaben des Europäischen Parlaments in der Quotenfrage. Allerdings stehen wir mit unserer Haltung allein da. Weil in allen anderen Verbänden Männer den Vorsitz haben, herrscht dort noch sehr viel Widerstand gegen diese Idee.

Focus: Geht es bei dem Thema also letztlich mehr um die Veränderung der Einstellung und die Schaffung eines neuen Bewusstseins als um das Erreichen bestimmter Zahlen?

Bochniarz: Genau so ist es. Die Wirkung lässt sich bereits beobachten: Die Haltung zum Thema Frauen und Diversität verändert sich, man ist sich der Bedeutung der Geschlechtervielfalt und anderer Formen der Diversität immer mehr bewusst. Im gleichen Maße ändert sich auch die Art, wie diese Fragen diskutiert werden – es geschieht zunehmend in einer Weise, die der Tragweite der Thematik gerecht wird.

Focus: Es ist interessant zu sehen, wie sich die neueren EU-Mitgliedsstaaten in diese Debatte einbringen. Beispielsweise ist ja in Polen – verglichen mit den älteren Mitgliedsstaaten – der Anteil an Unternehmerinnen relativ hoch. Wie lässt sich das erklären?

Bochniarz: Man muss bedenken, dass zu Beginn des Wechsels von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft vielen Frauen in Polen gar nicht anderes blieb als der Weg in die Selbstständigkeit. Da der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige, wie der Textilindustrie, viele Menschen arbeitslos gemacht hatte, mussten Frauen einen anderen Weg finden, für ihre Familie zu sorgen. Die Folge war ein Gründungsboom bei Kleinunternehmen.
Zu Beginn des Umbruchs war ich am Institut für Konjunktur und Preise beschäftigt und führte ein schönes, sicheres Leben, mit geregeltem Einkommen und hoher Stabilität. Doch es war der perfekte Zeitpunkt, etwas Neues auszuprobieren, also gründete ich mein eigenes Unternehmen – eine der ersten Beratungen in Polen. Ich hatte keine Erfahrung, kein Geld und keine genaue Vorstellung davon, wie meine Arbeit aussehen sollte. Zwar verfügte ich über einen wirtschaftswissenschaftlichen Hintergrund alter Schule, doch der war ja in einer Marktwirtschaft nutzlos. In den ersten Monaten zahlte ich mir kein Gehalt, obwohl ich 20 Stunden am Tag arbeitete. Aber es war eine sehr aufregende Zeit!
Heute werden 40 Prozent der Kleinunternehmen in unserem Land von Frauen geführt. Im Bereich der mittelgroßen Unternehmen sind Inhaberinnen jedoch nur sehr selten vertreten; bei börsennotierten Unternehmen sind Eigentümerinnen praktisch nicht anzutreffen, Frauen in Führungspositionen sind hier rar. Es scheint also noch etwas zu geben, das Frauen daran hindert, in Großunternehmen richtig erfolgreich zu sein. Doch in meinen Augen ist das nur eine Frage der Zeit – sie brauchen noch Zeit zum Lernen.

Focus: Sind es die Frauen, die dazulernen müssen, oder die Großunternehmen?

Bochniarz: Beide. Als Arbeitgeberin habe ich oft erlebt, dass ein Mann, der gebeten wird, ein schwieriges Projekt zu übernehmen, häufig sagt: „Ich werde es versuchen, auch wenn ich mich nicht gut genug auskenne.“ Von Frauen hört man dagegen oft: „Nein, das ist zu schwierig.“ Ähnliches passiert im Zusammenhang mit Führungspositionen. Ich verstehe natürlich, dass Frauen mit kleinen Kindern manchmal weniger fordernde Positionen bevorzugen, also zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Karriere den Preis für mehr Verantwortung nicht bezahlen wollen.

Focus: Befinden wir uns dann nicht in einer ausweglosen Situation?

Bochniarz: Das könnte man meinen – aber es gibt eine Lösung: Wir müssen die Art und Weise ändern, wie Unternehmen geführt werden. Denn solange man seine Arbeit erledigt, spielt es heute keine Rolle mehr, ob das im Büro geschieht, zu Hause oder im Auto. Dank dieser Flexibilität lässt sich das Miteinander von Arbeits- und Privatleben bedeutend einfacher gestalten als je zuvor.
Auch Männer sollten in dieser Hinsicht ein ausgeglichenes Verhältnis anstreben. Als in Schweden der Vaterschaftsurlaub eingeführt wurde, nahmen nur fünf oder sechs Prozent der Väter das Angebot wahr. Heute gilt dagegen als rückständig, wer davon keinen Gebrauch macht. Und wenn Vaterschaftsurlaub Normalität werden kann, dann können Männer sich auch freinehmen, wenn ihre Kinder krank sind. Das wiederum hätte zur Folge, dass Frauen bei Beförderungen nicht mehr übergangen werden, nur weil Vorgesetzte davon ausgehen müssen, dass sie aus familiären Gründen häufiger abwesend sein werden.

Focus: Sie werden wie folgt zitiert: „Die Fähigkeiten der Männer werden den Marktanforderungen von heute nicht gerecht.“ Über welche Fähigkeiten verfügen Frauen, die sie dafür besser geeignet machen?

Bochniarz: In den meisten entwickelten Ländern wird ein Großteil des BIP durch den Dienstleistungssektor erwirtschaftet und nicht durch die Industrie. Und bei Dienstleistungen sind in hohem Maße die sogenannten weiblichen Skills gefragt: Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zum Zuhören und das Arbeiten im Team. Gleichzeitig wird heute in Bereichen, die zuvor rein männlich dominiert waren, die erforderliche Körperkraft entweder durch Roboter oder Computersysteme ersetzt – sogar im militärischen Bereich. Ich war einmal regelrecht schockiert, als ich in eine Kommandozentrale voller Computer kam und sah, dass vor den Bildschirmen mehrheitlich Frauen saßen und unbemannte Drohnen steuerten.

Focus: Sie sagten einmal, dass Frauen nur dann nachhaltig Einfluss nehmen können, wenn ihr Anteil innerhalb eines Teams mindestens die „kritische Masse“ von 30 Prozent erreichte. Warum 30 Prozent?

Bochniarz: Zum einen werden diese 30 Prozent durch zahlreiche Forschungsergebnisse gestützt – sie sind also mehr als nur eine gut begründete Annahme. Sitzen in einem Führungsgremium nur ein oder zwei Frauen, müssen diese sich zwangsläufig an die von den Männern vorgegebenen Arbeitsweisen anpassen. Eine Frau kann in so einer Situation natürlich einen anderen Standpunkt vertreten oder eine andere Vorstellung davon haben, was zu tun ist und wie. Und sie kann auch überzeugt davon sein, dass sie recht hat – sie wird sich jedoch nur schwer Gehör verschaffen können. Und selbst wenn Frauen anfänglich versuchen, sich durchzusetzen, werden sie sich im Endeffekt der männlichen Mehrheit unterordnen.
Zum anderen kämpfen wir um mehr als nur eine bestimmte Anzahl von Plätzen am Tisch. Was wir wollen, ist eine neue Mentalität, eine neue Form des Arbeitens. Und wir müssen füreinander eintreten. Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright vertrat in einem ihrer Bücher die Ansicht, dass es in der Hölle einen speziellen Ort für Frauen gibt, die andere Frauen nicht unterstützen. Es ist also nicht damit getan, sich selbst eine gehobene Position zu sichern; vielmehr muss man dazu beitragen, dass es auch die vielen anderen qualifizierten Frauen nach oben schaffen.

Focus: Vor Kurzem wurden Sie in den Aufsichtsrat der UniCredit berufen und haben damit als erste Angehörige eines ehemaligen Ostblockstaates in einer der größeren Finanzgruppen der Eurozone einen solchen Posten inne. Sie haben im Laufe Ihrer Karriere schon in vielen Aufsichtsräten gesessen: Wie hat sich die Kultur in den Chefetagen Ihres Erachtens verändert?

Bochniarz: Die Kultur in den Führungsgremien ist natürlich je nach Land unterschiedlich. In den USA hat man mit den „One-Tier Boards“ ein monistisches System, wohingegen in vielen europäischen Ländern ein dualistisches System bevorzugt wird – also eines mit einem Leitungs- und einem Kontrollgremium. In den USA spielen die nichtgeschäftsführenden Board-Mitglieder heute im Hinblick auf die Corporate Governance eine immer wichtigere Rolle. Und obwohl wir in Polen ein etwas anderes System haben, fordern die Aktionäre auch hier zunehmend ein stärkeres Engagement der Aufsichtsratsmitglieder.
Bis vor wenigen Jahren war die Arbeit von Aufsichtsratsmitgliedern weitestgehend eine Pro-forma-Tätigkeit: Man kam als Kontrollgremium zwei- bis dreimal im Jahr zusammen und segnete so ziemlich alle Aktivitäten des Vorstands ab, ohne sich mit Details aufzuhalten. Heute beschäftigt sich der Aufsichtsrat viel eingehender mit den Angelegenheiten, achtet mehr auf Einzelheiten und übt eine stärkere Kontrolle aus. Zudem gibt es, was die Geschlechterzusammensetzung in Aufsichtsräten in Europa angeht, große geografische Unterschiede. Die skandinavischen Länder haben – mit einem Frauenanteil von mindestens 30 Prozent – die Führungsrolle eingenommen. An vorletzter Stelle steht Italien, wo erst vor Kurzem eine Frauenquote für Aufsichtsräte eingeführt wurde. Das Schlusslicht bildet Malta mit einem Anteil von nur sechs Prozent. Das heißt, auch wenn der europäische Durchschnitt bei nahezu 14 Prozent liegt, muss man sich die Zahlen je nach Land ansehen.

Focus: Worin besteht die Rolle des Vorsitzenden, wenn es um die Vermeidung von Uniformität im Aufsichtsrat geht?

Bochniarz: Natürlich sollte der Vorsitzende eines Aufsichtsrats über umfangreiche Kenntnisse hinsichtlich der Unternehmenstätigkeit verfügen. Viel wichtiger ist jedoch seine oder ihre Fähigkeit, die Arbeit des Gremiums effektiv zu organisieren und dafür zu sorgen, dass unterschiedliche Standpunkte gehört und ernsthaft in Betracht gezogen werden. Wenn in einer Sitzung 25 Tagesordnungspunkte behandelt werden sollen und dafür nur zwei Stunden vorgesehen sind, dann stimmt etwas nicht. Unter solchen Umständen ist es schlichtweg unmöglich, dass die Mitglieder sich auf authentische und wirkungsvolle Weise in Beratungen einbringen können. Die meiste Macht liegt dann beim Vorsitzenden – und wir wissen alle, dass die Bündelung von Macht in einer Person riskant ist, egal ob in Wirtschaft oder Politik. Nur wenn es wirklich offene Diskussionen gibt und die Angehörigen eines Führungsgremiums sich trauen, auch den Vorsitzenden oder den CEO zu hinterfragen, kann man sicher sein, dass alle ihre Arbeit tun.
Focus: Viele Unternehmen behaupten, dass sie sich uneingeschränkt für die Diversität im Mitarbeiterstamm und in den Führungsetagen engagieren. Gilt es jedoch, das Versprechen einzulösen, sieht die Realität oft anders aus. Was hält Unternehmen Ihres Erachtens davon ab, „ernst zu machen“?

„Können wir es uns leisten, so verschwenderisch mit unseren Ressourcen umzugehen? Ich bin ziemlich sicher, die Antwort lautet nein.“

Bochniarz: Ganz gleich, was im Unternehmenshandbuch oder auf der Webseite steht: Wenn von oben nicht klar kommuniziert wird, dass Vielfalt innerhalb der Organisation als wertvoll erachtet und auch gelebt wird, ändert sich nicht viel. Beispielsweise müssten Führungskräfte vor der Neubesetzung einer Stelle sagen: „Ich sehe mir nur eine Kandidatenvorauswahl an, die auch weibliche Bewerber enthält.“ Und sie sollten die uralte Ausrede der Personalabteilung, dass passende weibliche Kandidaten nicht zu finden gewesen seien, einfach nicht akzeptieren. In diesem Fall wäre das Unternehmen dann gezwungen, aktiv nach Frauen zu suchen – und man würde viele qualifizierte Kandidatinnen finden. Gibt es jedoch kein klares Bekenntnis zu diesem Selektions- und Beförderungsprinzip, lässt sich Diversität nur schwer erreichen.
Deshalb unterstützen wir Quoten – denn nicht jede Führungskraft durchschaut die perfiden Mechanismen, mit denen Frauen ausgeschlossen werden. Bevor EU-Justizkommissarin Viviane Reding vorschlug, den Frauenanteil in Aufsichtsräten durch feste Quoten zu erhöhen, hatte sie Unternehmen zur Unterzeichnung einer freiwilligen Zielvereinbarung aufgefordert, durch die der Frauenanteil in den Führungsgremien bis 2015 auf 30 Prozent und bis 2020 auf 40 Prozent gesteigert werden sollte. Doch in der gesamten Europäischen Union unterzeichneten nur 24 Unternehmen.
Ich höre zuweilen Leute sagen, dass sie einen höheren Frauenanteil in Führungsgremien zwar stark befürworten, doch dass Leistung bei der Ernennung im Vordergrund stehen müsse, sodass es auf natürliche Weise zu einem Wandel käme und nicht aufgrund verpflichtender Quoten. So nennen sie es, „auf natürliche Weise“. Doch „auf natürliche Weise“ würde eine Parität zwischen Frauen und Männern erst in 40 oder 50 Jahren erreicht werden. Können wir es uns leisten, so verschwenderisch mit unseren Ressourcen umzugehen? Ich bin ziemlich sicher, die Antwort lautet nein.

Focus: Kann es auch zu viel Vielfalt geben – also eine Situation, in der ein Führungsteam aufgrund zu vieler verschiedener Stimmen, Ideen und Meinungen nicht mehr in der Lage ist, geschlossen und entschlossen zu handeln?

Bochniarz: Das glaube ich nicht. Ich bin stellvertretende Vorsitzende der polnischen Dreierkommission für Wirtschafts- und Sozialfragen, die sich aus Vertretern der Regierung, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften zusammensetzt. Und Sie können mir glauben, dass die dort vorherrschende Diversität manchmal zu aufreibenden Debatten führt. Doch selbst wenn die verschiedenen Seiten nach zehn Stunden Diskussion die Argumente der anderen noch immer nicht akzeptieren, erzielen wir irgendwann eine Einigung. Das mag dann ein Kompromiss sein, aber selbst der ist Produkt eines Dialogs – und das ist viel mehr wert als eine Entscheidung, die von einer monolithischen, homogenen Gruppe durchgesetzt wird.

Focus: Sie waren aktiv an Dialogen zwischen vielen Partnern beteiligt – sei es zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften auf nationaler wie internationaler Ebene oder auch im Rahmen des European Forum of New Ideas, einer internationalen Wirtschaftskonferenz, an der Wissenschaftler, Politiker und Kulturvertreter teilnehmen.

Bochniarz: Das stimmt. Und obwohl die Gespräche frustrierend und ineffizient sein können, ist Fortschritt nur möglich, wenn wir zumindest versuchen, diese Art von Diskussionen zu führen. Selbst wenn sich die Beteiligten bei nur zehn Prozent aller Themen einigen können, lässt sich schon viel erreichen. Meines Erachtens ist das einer der Gründe, warum es Polen derzeit wirtschaftlich so gut geht. Wir haben es gleich zu Beginn der Krise in Europa geschafft, uns mit den Gewerkschaften auf ein Maßnahmenpaket zur Krisenbewältigung zu verständigen. Sie haben mehr Flexibilität hinsichtlich der Anwendung des Arbeitsrechts zugesichert, und auch wir waren zu Kompromissen bereit. Doch selbst wenn keine Einigung erzielt werden kann, halte ich den Weg des „sozialen Dialogs“ für ratsam – Länder, die sich dafür entscheiden, sind leistungsfähiger als jene, die es nicht tun.

Focus: 2006 ernannte Boeing Sie zur Präsidentin für Mittel- und Osteuropa. Damit gehörte es auch zu Ihren Aufgaben, die Geschäftsinteressen des Unternehmens in einem Dutzend Ländern zu vertreten. Da Sie nicht aus der Luftfahrtbranche kommen, muss das für Sie eine weitere, ganz besonders bereichernde Erfahrung gewesen sein.

Bochniarz: Ja, mit Boeing eröffnete sich mir eine völlig andere Welt: einer der größten amerikanischen Konzerne, mit einem Hauptsitz am anderen Ende der Welt, und eine Branche, von der ich nichts wusste. Der Lernprozess war schmerzhaft: Ich brauchte rund zwei Jahre, um wirklich zu verstehen, wie alles funktioniert. Doch es war unglaublich interessant zu lernen, wie Flugzeuge – die zu den teuersten Projekten der Welt gehören – konzipiert und gebaut werden.
Meine Berufung in den Aufsichtsrat der UniCredit stellt für mich eine ähnliche Herausforderung dar und bietet mir die Chance, von äußerst versierten Menschen zu lernen. Es wird Zeit brauchen, bis ich mich zurechtfinde. Doch als man an mich herantrat, sagte ich Ja, weil ich so neugierig darauf war herauszufinden, wie der Aufsichtsrat eines europäischen Großunternehmens in der Finanzbranche funktioniert.

Focus: Geschlechtervielfalt ist Ihnen ohne Frage sehr wichtig. Dennoch ist es bemerkenswert, dass Sie Diversität in ihrem ganzen Facettenreichtum betrachten – nicht nur die Vielfalt von Meinungen und Einstellungen zu Wirtschaft, Politik und Privatleben, sondern auch die Art und Weise, wie die vernetzte Welt dafür sorgt, dass zunehmend auch unterschiedliche Stimmen Gehör finden.

Bochniarz: Die jüngere Generation lebt ohne Zweifel in einer anderen Welt. Ich habe neun Enkel und verbringe viel Zeit mit ihnen. Dadurch, dass wir gemeinsam Filme ansehen oder ich mit ihnen Computer spiele, lerne ich zu verstehen, warum sie Dinge ganz anders wahrnehmen als ich – und das öffnet mir den Zugang zu einer ganz neuen Welt.

Focus: Wenn es an der Zeit ist, Ihren Enkeln Ratschläge für Leben und Karriere zu geben, was werden Sie da sagen?

Bochniarz: Dass es gilt, ein Gleichgewicht zwischen Beruf und Familie zu erreichen – und dass dieses Gleichgewicht sich in verschiedenen Phasen des Lebens verschiebt. Es gibt Zeiten, in denen man sich mehr auf seine Kinder konzentriert, und Zeiten, in denen die Karriere im Vordergrund steht. Deshalb müssen Gesellschaften und Unternehmen berufliche Werdegänge akzeptieren, in denen es Phasen der Stagnation und Phasen des Durchstartens gibt.
Ich werde ihnen auch sagen, dass man seinen eigenen Lebensplan entwerfen und anderen Menschen, wie Eltern, Schwiegereltern oder dem Chef, nicht erlauben soll, das für einen zu tun. Doch natürlich hat man auf viele Geschehnisse keinen Einfluss: Ich hätte nie gedacht, dass es in meinem Land zu einer Wende kommen, dass ich mich selbstständig machen und einmal Ministerin und Präsidentschaftskandidatin sein würde. Der entscheidende Punkt besteht darin, Veränderungen nicht zu fürchten, sondern sie als Chance zu begreifen. Sicherlich muss man die Interessen anderer Menschen und der Gesellschaft berücksichtigen, hat also nicht die uneingeschränkte Freiheit zu tun, was man will. Doch wo ich den Verlauf meines Lebens durch eigene Entscheidungen beeinflussen kann, möchte ich die Freiheit haben, das auch zu tun.

Das Interview mit Henryka Bochniarz im Hauptsitz von LEWIATAN in Warschau führten Jaroslaw Bachowski-Ciura, Egon Zehnder International, Warschau, und Ulrike Mertens, FOCUS.

Henryka Bochniarz

Als eine der wichtigsten Stimmen im europäischen Dialog zum Thema Diversität kann Henryka Bochniarz auf eine abwechslungsreiche Karriere zurückblicken. Seit 1999 ist sie Vorsitzende der polnischen Konföderation der privaten Arbeitgeber LEWIATAN, der größten Arbeitgeberorganisation für den privaten Sektor. Sie ist die Vizepräsidentin von BUSINESSEUROPE, dem größten und wichtigsten Arbeitgeberverband in der Europäischen Union, und außerdem Mitglied der Enterprise Policy Group, eines Beratergremiums der Europäischen Kommission. Darüber hinaus fungiert sie seit 2002 als stellvertretende Vorsitzende der polnischen Dreierkommission für Wirtschafts- und Sozialfragen und beteiligt sich aktiv am Dialog zwischen Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Sie war Mitbegründerin des Frauenkongresses in Polen und gehörte zu den Urhebern des polnischen Gesetzes für Geschlechterparität. 2005 trat sie als Präsidentschaftskandidatin der Demokratischen Partei an.
Bevor Boeing sie im Jahr 2006 zur Präsidentin für Mittel- und Osteuropa ernannte, war sie Präsidentin und Mitinhaberin von Nicom Consulting, einem der ersten Beratungsunternehmen in Polen, das sie in den neunziger Jahren gegründet hatte. Henryka Bochniarz war außerdem 18 Jahre lang als Professorin und Forscherin am Foreign Trade Research Institute (FTRI) beschäftigt. Die Empfängerin zahlreicher Auszeichnungen – darunter der Andrzej-Baczkowski-Preis, den sie 2003 für ihren außerordentlichen Beitrag zur Entwicklung des sozialen Dialogs in Polen erhielt – engagiert sich sehr für Kunst und hat in diesem Zusammenhang den Nike-Literaturpreis für das beste Buch des Jahres mit ins Leben gerufen. Neben zahlreichen Abhandlungen zu sozialen und wirtschaftlichen Fragen hat Bochniarz zusammen mit Jacek Santorski das Buch „Sei du selbst und gewinne: 10 Tipps für die aktive Frau“ verfasst.

FOTOS: ROBERT FISCHER

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