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  • Februar 2022
»Sense and Respond«
Wirtschaftsphilosoph und Bestsellerautor Frédéric Laloux über das Ende der klassischen Organisation – und warum die Zukunft selbstführenden Organisationen gehört.
Wer sagt, dass Führungskräfte stets autoritär agieren und strategisch denken können müssen? Wirtschaftsphilosoph Frédéric Laloux sieht unsere Vorstellungen von Führung und Organisation in einem grundlegenden Wandel. Im Interview mit Egon Zehnder erklärt er, warum Sensitivität und Reaktionsvermögen heute entscheidende Führungskompetenzen sind – und wieso Organisationen sich neu erfinden müssen, wenn sie überleben wollen.

Über den verlorenen Glanz der Führungspositionen ...

Frédéric Laloux: Als ich vor gut 15 Jahren in der Wirtschaftswelt begann, herrschte noch der allgemeine Glaube, wir meisterten die Kunst des Managements. Man blickte auf zu Firmen wie General Electric unter Jack Welch, bei denen man das Gefühl hatte: So geht Management.
Heute treffe ich bei fast allen Führungskräften auf die Einsicht, dass alles zu langsam, zu bürokratisch und zu wenig innovativ sei und man nicht mehr wisse, wie man Mitarbeiter motivieren könne. Und weil man nicht mehr weiß, was man tun soll, probiert man es notgedrungen mit dem nächsten Managementtrend.
Aber es gibt noch eine Erkenntnis, über die niemand spricht: Es macht heute keinen Spaß mehr, Top-Führungskraft zu sein. Die Arbeit an der Unternehmensspitze ist zu einem »Rat Race« verkommen. Jeder ist unglaublichem Druck ausgesetzt, den alle irgendwie auszuhalten versuchen. Im Grunde bewegen sich fast alle am Rande des Burnouts.


Über Aussteiger und Einsteiger ...

Frédéric Laloux: Ich glaube, wir haben es mit einer grundlegenden Krise des Managements unserer Institutionen zu tun. In der Konsequenz kehren immer mehr Führungskräfte der Wirtschaftswelt den Rücken. Sie tun dies teils wegen eines Burnouts, einer Erkrankung oder Scheidung, die sie ihr Leben überdenken lässt. Einige aber realisieren auch schlicht: »Hey, ich weiß nicht, ob ich all das wirklich noch länger tun will. Da draußen muss es ein besseres Leben geben.«
Nicht alle gehen der Wirtschaftswelt verloren. Manche starten neue Unternehmen oder beginnen, ihre existierenden auf ungewöhnliche Weise zu verändern. Bei meinen Recherchen stieß ich auf eine ganze Reihe erstaunlicher Unternehmen, gegründet von Führungskräften, deren persönlicher Weg sie befähigt hat, auf ihre Arbeit, ihr Management und ihre Organisationen in neuer Weise zu schauen.


Über den »evolutionären Zweck« von Unternehmen ...

Frédéric Laloux: »Evolutionärer Zweck« ist ein Begriff, den eines der von mir untersuchten Unternehmen geformt hat. Er bedeutet zum einen, dass die Organisation jenseits des reinen Geldverdienens und der Steigerung ihrer Marktanteile einen sinnvollen Daseinszweck hat. Zum anderen impliziert er, dass die Organisation aufmerksam ist und ständig im Auge behält, wohin sie dieser Zweck führt. Die Führungspersönlichkeiten der Unternehmen, die ich untersucht habe, sagen: »Das traditionelle Konzept der Zielvorgaben macht nur dann Sinn, wenn man Organisationen als ein lebloses Etwas betrachtet, das gesteuert und auf einen Weg gebracht werden muss. Wir sind aber überzeugt, dass unsere Organisationen lebendige Organismen sind, die über einen eigenen Orientierungssinn verfügen. Und weil das so ist, hat sich unsere Rolle gewandelt: Sie liegt darin, den evolutionären Zweck unserer Organisationen zu verstehen.«


Über Organisationen als lebende Organismen ...

Frédéric Laloux: Die Welt ist derart komplex geworden, dass das Beste, was wir tun können, nicht im Planen und Kontrollieren (»predict and control«) besteht, sondern im Wahrnehmen und Ermöglichen (»sense and respond«). Nehmen Sie die agile Softwareentwicklung: Sie hat uns gezeigt, wie viel wirkmächtiger Wahrnehmen und Ermöglichen im Vergleich zu Planen und Kontrollieren sind. Mit dem Konzept des evolutionären Zwecks ergreift dieser Ansatz die gesamte Organisation. Er ersetzt die strategische und die Budgetplanung sowie das Herunterbrechen von Unternehmenszielen durch sehr viel leichtere, anpassungsfähigere Praktiken.


Über Selbstführung als Organisationsprinzip ...

Frédéric Laloux: Es gibt heute Organisationen mit Tausenden von Mitarbeitern, die komplett ohne eine hierarchische Bindung an einen Vorgesetzten oder CEO arbeiten. Das mag verrückt klingen, ist aber genau die Art und Weise, wie komplexe Systeme – denken Sie an unser Gehirn oder natürliche Ökosysteme – funktionieren.
Das menschliche Gehirn beispielsweise besteht aus etwa 85 Milliarden Zellen. Keine davon ist ein CEO, der anderen Zellen sagt, die glauben, ein Vorstand zu sein: »Hey Leute, wenn Ihr eine gute Idee habt, schickt sie zuerst zu mir«. Wenn Sie versuchen würden, das Gehirn in dieser Weise zu trainieren, würde es nicht mehr funktionieren. So kann man Komplexität nicht bewältigen. Deshalb basieren alle komplexen Systeme, denken Sie nur an Wälder, den menschlichen Körper oder auch jedes Organ, auf Selbstführung.


Über den Weg zum selbstgeführten Unternehmen ...

Frédéric Laloux: Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Führungskräfte ergreifen können, wenn sie sich auf diesen Weg begeben. Eine besteht darin – das habe ich immer wieder beobachtet –, ein Team von Enthusiasten zusammenzustellen und ihnen ein Mandat zu geben, Neues anzufangen, auszuprobieren und zu experimentieren. Aufgabe des CEOs ist es nicht, Selbstmanagement von oben zu implementieren, sondern dieses Team zu fördern und zu schützen, denn die Organisation wird ganz sicher zurückschlagen. Aber diese Inseln der Vernunft wecken oftmals eine Begeisterung in der Organisation, die dazu führt, dass andere ebenfalls einsteigen wollen.


Über ein ganzheitliches Verständnis von Mitarbeitern ...

Frédéric Laloux: Das Prinzip der Ganzheitlichkeit ist mindestens so wirkmächtig wie Selbstführung, aber deutlich subtiler und weniger schlagzeilenträchtig – viele unterschätzen seine Wichtigkeit. In konventionellen Organisationen fühlen wir uns häufig gezwungen, eine professionelle Maske zu tragen. Wenn wir so viel von dem, was uns ausmacht, hinter einer Maske verstecken, trennen wir uns auch von einem Großteil unserer Energie, Kreativität und Leidenschaft. Einige der Organisationen, die ich untersucht habe, verstehen das und haben bewusste Maßnahmen ergriffen, damit ihre Mitarbeiter so sein können, wie sie tatsächlich sind. Wenn Menschen so auftreten können, werden Beziehungen tiefer und reicher. Das wiederum führt zu einer außerordentlichen Lebendigkeit der Organisation.

Frédéric Laloux ist ein unbequemer Vordenker mit einer unkonventionellen Vita.

Nach einem klassischen MBA-Studium an der INSEAD und einer Zeit als McKinsey-Berater begab er sich auf die Suche nach einer neuen Weltsicht. Seine revolutionären Management-Ansätze veröffentlichte er in seinem Bestseller »Reinventing Organizations«. Heute ist er ein international gefragter Gesprächspartner, der seinen Gegenentwurf auch persönlich vorlebt. Laloux lebt im Ecovillage Ithaca im US-Bundesstaat New York und verbringt viel Zeit mit seiner Familie. In seiner automatischen E-Mail-Antwort lesen wir: »Wenn Sie mich um einen Vortrag oder eine Beratung bitten und innerhalb einer Woche keine Antwort bekommen, betrachten Sie dies bitte als die höflichste Form, die ein Nein haben kann.«


Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Freunde von Freunden / FvF Productions

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