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Auf dem Sprung

In Übergangsprozessen sind Organisationen vor allem mental gefordert.

  • November 2008

Unsere Zeit ist geprägt von stetigem Wandel. Die Übergänge zwischen Phasen der relativen Stabilität und Instabilität sind fließend. Für die Unternehmen und ihre Führer bedeutet dies, dauerhaft flexibel auf ständig sich verändernde Anforderungen reagieren zu können. Dies wird nur gelingen, wenn das Top-Management die gesamte Organisation auf eine innere Haltung der permanenten Wachsamkeit einschwört.

Im April dieses Jahres trat Arthur Sulzberger Jr., Aufsichtsratsvorsitzender und Erbe der New York Times Company, vor die Anteilseigner des Unternehmens und sprach über die Lage des legendären Zeitungsverlags. Keine Vokabel, so vermerkten Beobachter, benutzte Sulzberger dabei so oft wie das Wort „transition“. Seit 1987 sinken die Auflagen amerikanischer Tageszeitungen kontinuierlich. Leser wandern zunehmend ins Internet ab und mit ihnen die Anzeigenkunden. Das Verlagsgeschäft, viele Jahre eine Lizenz zum Gelddrucken mit zweistelligen Renditen, wird zum Verlustgeschäft. Zum ersten Mal in ihrer mehr als 150-jährigen Geschichte hat nun auch die „Times“, Flagschiff und Symbol für unabhängigen Journalismus, Redakteure entlassen. Erstmals muss die Gründerfamilie gegen ihren Willen die Vertreter zweier Investmentfirmen im Aufsichtsrat akzeptieren. Wie das Unternehmen am Ende des von Sulzberger so oft zitierten Übergangs aussehen wird, sagte er nicht.

Was für die US-Zeitungsindustrie gilt, betrifft auch zahlreiche andere Bereiche von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wir alle leben in Zeiten des Übergangs. Noch im April 2000 etwa waren nahezu alle Wirtschaftsexperten vom fundamentalen Paradigmenwechsel durch das Internet überzeugt. Sie ahnten nicht, dass nur einen Monat später die Blase platzen würde. In Deutschland verdunkeln derzeit erste düstere Wolken den Konjunkturhimmel, aber noch sinken die Arbeitslosenzahlen. Die Bankenkrise erschüttert längst nicht mehr nur die Finanzwelt. Die Implikationen der Globalisierung, die Folgen des Klimawandels – sie alle sind in ihrer quantitativen Tragweite und qualitativen Wirkung noch nicht wirklich zu erfassen.

Es ist diese Ungewissheit, die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit verschiedener, oft schwacher Signale, die Übergangssituationen kennzeichnet. Es wird nicht bleiben, wie es ist, soviel steht fest – aber wie es wird, ist noch nicht klar.

Eine Frage der inneren Haltung

In dieser Phase zwischen Stabilität und Veränderung braucht es Achtsamkeit, Anpassungsfähigkeit, Reaktionsschnelligkeit und die Bereitschaft zum beherzten Handeln. Individuen und Organisationen müssen bildlich gesprochen wie Sprinter in den Startblöcken alle Muskeln anspannen, um im entscheidenden Moment vorwärts zu schnellen. Sie müssen sich also vor allem mental auf den Sprung nach vorn einstellen. Insofern sind Übergänge eine der bedeutendsten Führungsherausforderungen unserer Zeit.

Gerade in Übergangssituationen aber machen sich vielerorts Angst und Abwarten breit, herrscht Fatalismus oder wird auf bewährte Strategien aus der Vergangenheit zurückgegriffen – bis hinauf in die Unternehmensspitzen. Als etwa der Pharma-Riese Pfizer, wie so viele in dieser Branche, aufgrund schwacher Pipeline und wegbrechender Blockbuster in eine Krise geriet, wurde der Chief Legal Counsel zum neuen CEO ernannt – ein Jurist, dessen Stärke es eher ist, die Vergangenheit gut strukturieren zu können.

Bei anderen Unternehmen gelang der Übergang zu echten Veränderungen erst, nachdem sich die erprobten Handlungsmuster entweder als unhaltbar oder völlig überholt desavouiert hatten. Bei Siemens etwa machte erst der Korruptionsskandal den Weg frei für eine neue Organisationsstruktur und Führungskultur durch den unbelasteten CEO Peter Löscher. Beim erfolgsverwöhnten Autobauer BMW musste die Profitabilität auf ein alarmierend niedriges Niveau sinken, ehe die Unternehmensführung unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Norbert Reithofer die Neuausrichtung der strategischen Ziele und Prozesse, verbunden mit einem radikalen Kostenmanagement, in Angriff nahm.

Der spätere Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein wissenschaftlicher Kollege Amos Tversky, beide Pioniere der kognitiven Psychologie, haben sich bereits Ende der siebziger Jahre intensiv mit menschlichem Entscheidungsverhalten in unsicheren Situationen beschäftigt. Nach ihren Erkenntnissen scheuen Menschen nicht das Risiko, sondern Verluste. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Denn es bedeutet, dass Menschen nur so lange risikoscheu sind, wie sie einen Besitzstand zu wahren haben. Dagegen sind sie äußerst risikobereit, wenn sie sich in einer Verlustposition befinden und hoffen, den drohenden Verlust durch einen hohen und riskanten Einsatz in letzter Minute abwenden zu können. „People tend to avoid risks when seeking gains“, fanden Kahneman und Tversky heraus, „but choose risks to avoid sure losses.“

Das macht verständlich, warum sich die meisten Mitarbeiter in Unternehmen, die sich nicht in absoluten Krisensituationen befinden, gegenüber Veränderungen eher defensiv verhalten. Sie haben etwas zu verlieren – materielle und organisatorische Besitzstände, Erfahrung, Sicherheit, vertraute Routinen. Die mit dem Besitzstand wachsende Risikoscheu erklärt auch, warum oft gerade die mittleren Führungsebenen besonders hartnäckigen Widerstand gegen Veränderungen leisten – zur Enttäuschung des Top-Managements, das sich dann über die „Lähmschicht“ ärgert.

Auch die Verhaltensmuster, mit denen die meisten Menschen auf nicht mehr vermeidbare Veränderungen reagieren, sind hinlänglich beschrieben worden. Erste Reaktionen auf die sich abzeichnende Änderung einer vielleicht gar nicht mehr so komfortablen, aber scheinbar sicheren Situation sind Angst und Verwirrung. Dem Schock folgt die Verneinung der Realität: „Das kann nicht sein!“ Erst unter dem Druck der wirklich nicht mehr zu negierenden Veränderungen erfolgt schließlich nach einer rationalen auch die emotionale Akzeptanz der Situation. Erst an diesem Punkt sind Menschen bereit, das Alte loszulassen, um frei zu werden für das Neue. Nun sind sie bereit zu lernen, sich anzupassen und neue Handlungs- und Verhaltensweisen anzunehmen.

Angst – ein schlechter Ratgeber

Es braucht also sowohl einen rationalen als auch emotionalen Konsens im Unternehmen. Wie aber ist dieser zu erzielen? Ein wichtiger Schlüssel dazu ist eine offene Kommunikation zwischen Unternehmensspitze und Mitarbeitern. Wenn der Übergang von der Stabilität über eine Phase der Instabilität hin zu erneuter Stabilität von Sorgen, Befürchtungen und Verunsicherung seitens der Mitarbeiter begleitet ist, dann ist ein Kommunikationssystem, das frühzeitig auf diese Begleiterscheinungen reagiert, unbedingt notwendig, um Übergangsprozesse erfolgreich zu managen. Das beste Gegenmittel gegen Ängste besteht darin, zügig klare Verhältnisse zu schaffen und offen darüber zu reden. Selbst eine unangenehme Wahrheit ist von den Betroffenen in der Regel leichter zu ertragen als das Gefühl, wochen- und monatelang im Ungewissen gelassen zu werden. Beispielhaft ist hier etwa Wolfgang Reitzle vorgegangen, seit 2003 neuer CEO der Linde AG. Sehr früh kommunizierte er die künftige Konzentration des Unternehmens auf das Geschäft mit Industriegasen und stellte unmissverständlich klar, dass dies den Verkauf sowohl der unprofitablen Kältetechnik als auch des gewinnbringenden Geschäfts mit Gabelstaplern bedeutete.

Hat sich die Unternehmensspitze kommunikativ dagegen erst einmal in die Enge drängen lassen und ist hauptsächlich mit Dementis beschäftigt, wachsen die Zweifel an ihrer Kompetenz und Wahrhaftigkeit schnell; intern und extern. In einer solchen Situation hat der CEO kaum mehr die Chance, seine tatsächlichen Pläne und Intentionen glaubhaft zu vermitteln und später auch durchzusetzen.

Kommunikation sollte dabei durchaus nicht allein als Weiterleitung von Informationen von oben nach unten verstanden werden, sondern auch die Chance zum echten Dialog zwischen dem Top-Management und Mitarbeitern aus allen Hierarchiestufen bieten. Wenn Menschen keine Gelegenheit haben, über ihre Sorgen zu sprechen, gehen die Ängste in den Untergrund und schlagen sich dann in den unterschiedlichsten, kaum noch berechenbaren Abwehrstrategien nieder. Sie können sich ebenso in passivem und aktivem Widerstand gegen Veränderungen äußern wie in Gerüchten und Spekulationen, die das Image des Unternehmens beschädigen, bis hin zu individuellen Reaktionen, die der Firma in einem sensiblen Übergangsprozess auch organisatorisch schaden können, etwa, wenn die Leistungsträger für sich die Handlungsinitiative ergreifen und gehen.

Ratgeber statt Aufseher

Außerdem sollte die Unternehmensführung gezielt diplomatische Prozesse mit den wichtigen anderen Stakeholdern des Unternehmens aufsetzen. Von besonderer Bedeutung ist hier sicherlich der Austausch zwischen Unternehmensspitze und Aufsichtsrat und ganz besonders die Beziehung zwischen CEO und Chairman. Gerade in unsicheren Phasen des Übergangs sollten diese beiden Persönlichkeiten in ständigem Kontakt miteinander stehen und sich sowohl über die Interpretation der Signale aus dem Unternehmensumfeld als auch über die sich daraus ergebenden strategischen Ziele besprechen.

Fast alle Veränderungen kündigen sich ja durch vielfältige Vorzeichen an. Wenn zum Beispiel die eigene Profitabilität zu sinken beginnt, obwohl – oder gerade weil – das Unternehmen nichts anders macht als bisher, wenn Wettbewerber plötzlich deutlich kostengünstiger produzieren können, wenn bisher treue Kunden auffallend häufig zur Konkurrenz wechseln, weil die mit innovativen Produkten lockt, oder wenn in der Branche neue Geschäftsmodelle entstehen, spätestens dann sollten in der Chefetage die Alarmglocken schrillen. Entscheidend ist, diese anfänglich oft noch diffusen Signale so früh wie möglich wahrzunehmen, richtig zu deuten und schnell entsprechende Konsequenzen für das eigene Unternehmen daraus zu ziehen.

Bereit für den Wandel

Ein professionell besetztes Board wird in dieser Situation weniger als Aufsichts- denn als Beratungsgremium gefragt sein. Die dort versammelte langjährige und vielfältige Erfahrung kann und sollte genutzt werden, um den CEO in der Entscheidungsfindung zu unterstützen. In dieser frühen Phase hat die Unternehmensführung den Spielraum, um mit dem Aufsichtsrat verschiedene Handlungsoptionen durchzuspielen. Tragfähige Lösungen können so in einem fruchtbaren und intensiven Austausch entwickelt werden. Mit einer derartig proaktiven Haltung wird es möglich, Veränderungen selbst zu gestalten oder sogar bewusst anzustoßen und nicht nur auf Impulse von außen reagieren zu müssen.

Aus der Richtung der sich abzeichnenden Veränderungen lässt sich zudem oft schon ablesen, über welche Fähigkeiten und Kompetenzen die Organisation künftig verfügen muss. Denn es geht neben den strategischen und operativen Entscheidungen, die die Unternehmensführung zu treffen hat, wie bereits erwähnt vor allem darum, die Organisation auch intern auf den Wandel vorzubereiten.

Dies bedeutet allerdings nicht nur eine einmalige Anstrengung, sondern den Erwerb einer inneren Einstellung, die das Unternehmen als Ganzes so prägen muss, dass alle seine Player dauerhaft wach und flexibel bleiben, sich die Organisation in einem Zustand der gelassenen Unruhe befindet. Der schwedische Unternehmer Jacob Wallenberg bezeichnet diesen État d’être in einem Interview in der vorliegenden Ausgabe des FOCUS sehr treffend als dynamische Kontinuität. Zwei Schlüsselelemente scheinen uns dabei in Übergangsprozessen von vitaler Bedeutung:

Transition Leadership. Sie beinhaltet die Fähigkeit von Führungskräften, Mitarbeiter auf eine neue Richtung einzuschwören und in einer komplexen Organisation ein entsprechendes Momentum aufzubauen. Führungskräfte müssen sich in diesem Zusammenhang in individuelle Motivationslagen hineindenken und Menschen begeistern können. Dazu braucht es, wie schon beschrieben, ausgeprägtes Kommunikationstalent. Übergangskompetenz entsteht zudem aus ständiger Qualifikation sowie unterschiedlichen funktionalen und geschäftlichen Erfahrungen im globalen Kontext. Sie stellt als neuartige Kompetenz einen Mix aus Veränderungskompetenz, Strategie- und Ergebnisorientierung sowie teamorientierter Führungskompetenz dar.

Talent Strategy. Nicht nur in Übergangsprozessen, aber hier besonders, ist das Wissen über Stärken und Schwächen der vorhandenen Führungskräfte und deren gezielter Einsatz erfolgskritisch. In Kohärenz mit der Unternehmensstrategie geht es also darum, rechtzeitig und zugleich auf lange Sicht jene Leistungsträger zu erkennen und zu entwickeln, die über die benötigten Kompetenzen für die Phase des Übergangs und die neue Welt danach verfügen oder die das Potenzial haben, sich diese durch entsprechende Praxiserfahrungen schnell anzueignen. Die Entwicklung einer Talent Strategy ist Aufgabe des CEO. Operativ umgesetzt wird sie dann durch ein effizientes Talent Management.

Die Macht der Werte

In der Achterbahnfahrt eines schwierigen Überganges bilden gelebte Werte jene Kraft, die das Unternehmen zusammenhalten kann. Gerade in einer Phase der Neuausrichtung ist es notwendig, einen gemeinsamen und von allen getragenen Wertekanon zu definieren. Franz Fehrenbach etwa, der 2003 die Leitung der Robert Bosch GmbH übernommen hatte, setzte den von seinem Vorgänger begonnenen Kulturwandel bei dem Autozulieferer konsequent fort. Mit Werten wie Zukunfts- und Ertragsorientierung, Verantwortlichkeit, Eigeninitiative, Offenheit und Vertrauen gelangen Bosch in der Folge zahlreiche Innovationen, auch in ganz neuen Bereichen. Wachstum, tausende neue Arbeitsplätze und ein hervorragendes Image sind die positiven Folgen.

Gerade in Übergangssituationen muss die Unternehmensführung sehr deutlich machen, welche Firmenwerte unantastbar sind. Diese haben sozusagen unter allen denkbaren Bedingungen „ewigen“ Bestand, etwa die Verpflichtung zu Integrität oder Verantwortungsbewusstsein. Oft ist es aber unabdingbar, die Unternehmenswerte außerhalb dieses Kerns einer kritischen Begutachtung und möglicherweise Neugewichtung zu unterziehen. Beispielsweise könnte die einseitige Ausrichtung auf Gewinnmaximierung zurücktreten zugunsten der Nachhaltigkeit, die neu in den Kanon aufgenommen wird.

Übergang und Veränderung werden nur gelingen mit einer Persönlichkeit an der Unternehmensspitze, die auch in höchst risikobehafteten Situationen diese Werte verkörpert und die zudem Authentizität und Verlässlichkeit ausstrahlt. Gerade der CEO sollte paradoxe und uneindeutige Situationen ertragen können – mit Gelassenheit und innerer Zuversicht. Dabei darf er nie den Kontakt und die Nähe zu seinem Team oder seinem Unternehmen verlieren. Zu einer Verschiebung, zu einem Richtungswechsel sind außerordentliche Kräfte notwendig. Solche Kräfte erzeugen Gegenkräfte, Verzerrungen, Verwindungen. Der Chef muss wissen, was er seinem Team oder seinem Unternehmen zumuten kann, damit die Organisation Übergänge nicht ausgezehrt und erschöpft hinter sich bringt, sondern innerlich gestärkt den Wandel meistert. Denn Übergang und Wandel sind nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel.

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