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Nachhaltigkeit

Weltbürger:innen in den Aufsichtsrat

Wie Expert:innen für Nachhaltigkeit die Corporate Governance großer Unternehmen verändern

  • Juni 2022

Als Connie Hedegaard 2016 in den Aufsichtsrat des Windkraftherstellers Nordex berufen wurde, war sie eine Pionierin – als erste Expertin für Klimawandel, Umweltschutz und ESG (Environment, Social, Governance) in einem deutschen Aufsichtsrat. Bereits mit 24 Jahren war sie als jüngste Abgeordnete ins dänische Parlament eingezogen, später leitete sie als Umwelt-, Klimaschutz- und Energieministerin die UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen (COP 15).  2010 wurde sie die erste EU-Kommissarin für Klimaschutz im Kabinett von José Manuel Barroso.
 
Drei volle Jahrzehnte hat es also gedauert, bis der Begriff der „Nachhaltigen Entwicklung“, wie er im Abschlussbericht der Brundtland-Kommission geprägt wurde, auf der strategischen Ebene der Unternehmensführung in Deutschland angekommen ist. Heute gehört es zum guten Ton, nicht nur eine:n renommierte:n „ESG-Expert:in“ in den Aufsichtsrat zu berufen, sondern diese Person oft auch mit der Bildung und dem Vorsitz eines dedizierten Sustainability-Ausschusses zu betrauen. 

Das Profil dieser Persönlichkeiten ist ein Spiegelbild des sich wandelnden Selbstverständnisses von Unternehmen. Aus einer „Shareholder Economy“, in der die verlässliche Steigerung von Quartalsergebnissen mit den höchsten Unternehmensbewertungen belohnt wurde, ist eine „Stakeholder Economy“ geworden, in der Gesetzgeber und Regulierer, Kund:innen, langfristig orientierte Investor:innen, Zivilgesellschaft, Mitarbeiterinnen und Öffentlichkeit – gestützt auch durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse – immer neue und weiter reichende Erwartungen an Unternehmen stellen. Und so genügt es heute nicht mehr, gute Finanzergebnisse zu liefern. Wie diese entstehen, mit welchen Geschäftsmodellen, mit welchen Arbeitsbedingungen im eigenen Unternehmen und in der Lieferkette, mit welchem Ressourcenverbrauch und mit welcher Wirkung auf die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre und auf die Biodiversität – das sind heute entscheidende Faktoren für die Unternehmensbewertung und damit den Zugang zum Kapitalmarkt. Mehr noch: Heute ist Haltung gefragt – zu einem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ebenso wie zur Impfung gegen Corona und zu dem Polizistenmord an einem Afroamerikaner. Das Unternehmen ist in unserer jederzeit informierten Gesellschaft ein mündiger Staatsbürger geworden, ein Corporate Citizen, von dem wir ethisch vorbildliches Verhalten erwarten.

Dieser massiv gestiegenen Komplexität im Bezugsrahmen haben Unternehmen in den vergangenen Jahren immer mehr Rechnung getragen, zumindest auf operativer Ebene. Berichtssysteme für Nachhaltigkeitsdaten wurden aufgebaut, Expert:innen für Umwelt- und Klimaschutz, für Menschenrechte, für Compliance und Risikomanagement wurden eingestellt, regelmäßige Stakeholder-Umfragen wurden eingeführt. Und man hat begonnen, sich von Rating-Agenturen bewerten zu lassen, die auf unternehmerische Nachhaltigkeit spezialisiert sind.

Mit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 haben sich die meisten Länder der Staatengemeinschaft auf das 1,5-Grad-Ziel verpflichtet und inzwischen auch konkrete Reduktionspläne (National Determined Contributions, NDCs) für Treibhausgasemissionen vorgelegt. Die EU ist weit darüber hinausgegangen und hat ein verbindliches Reporting-Regime für Unternehmen etabliert, das sicherstellt, dass Klima- und Umweltziele auch tatsächlich erreicht werden. Umgekehrt haben sich über 2800 Unternehmen bereits anspruchsvolle Selbstverpflichtungen auferlegt. Diese Klimaziele können nur durch hohe Investitionen in neue Technologien wie grünen Wasserstoff oder CO2-Abscheidung, durch Anpassung der Geschäftsmodelle oder auch das Beenden von bestimmten Geschäftstätigkeiten erreicht werden. Die durch den Klimawandel notwendige Transformation erheblicher Teile der deutschen Industrie – nicht nur der energieintensiven – ist zum strategischen Imperativ geworden. 

Ohne Frage braucht es dafür die richtigen Persönlichkeiten auch im Aufsichtsrat. Menschen, die neben der relevanten Expertise und Erfahrung die richtige Identität für diese herausfordernde Aufgabe mitbringen. Welchen Unterschied sie für die Nachhaltigkeitsperformance des Unternehmens machen, haben wir in einer breit angelegten quantitativen Studie mit der Universität Göttingen untersucht: Europaweit haben Unternehmen mit einem:r ESG-Expert:in im Aufsichtsrat und einem Nachhaltigkeitsausschuss eine signifikant bessere Nachhaltigkeitsperformance bei den einschlägigen Rating-Agenturen. 

Aus unserer Erfahrung in Deutschland und im europäischen Ausland, wo der Trend zu ESG- Expert:innen im Aufsichtsrat früher eingesetzt hat, lässt sich folgendes Muster für das Idealprofil erkennen:

  1. Mindset 
    Menschen, die sich aus tiefer Überzeugung – und nicht, weil Regularien sich ändern – mit dem Paradigma der Nachhaltigkeit beschäftigen, denken kosmopolitisch. Das heißt, sie verstehen sich in erster Linie als Weltbürger:innen, die in Verantwortung für die Menschheit, die Weltgesellschaft und den gemeinsamen Planeten leben und handeln. Diese schon in der Antike entwickelte Ethik gewinnt in unserer Zeit des menschengemachten Klimawandels und des fortschreitenden Verlustes der Artenvielfalt eine neue Relevanz.

    Teil dieser Haltung ist aber auch, wissenschaftliche Erkenntnisse zu Klimawandel und Nachhaltigkeit anzunehmen und konstruktiv, das heißt chancenorientiert in den strategischen Diskurs im Aufsichtsrat einzubringen. 
     
  2. Systemdenken
    Nachhaltigkeitsexpert:innen können und wollen in großen Zusammenhängen denken. Sie sind nicht einem bestimmten fachspezifischen Denken verhaftet, sondern haben ein interdisziplinäres Instrumentarium und verstehen Wechselwirkungen und Dynamiken in komplexen Systemen. Gerade das Verständnis von Mensch-Umwelt-Beziehungen hat in der Nachhaltigkeit eine große Bedeutung. 
     
  3. Stakeholder-Blick
    Nachhaltigkeitsexpert:innen im Aufsichtsrat haben ihre Berufserfahrung in mehreren Sektoren erworben. Eine lebenslange Karriere allein im privaten, im öffentlichen, im zivilgesellschaftlichen Sektor oder in der Wissenschaft helfen nicht dabei, ein Unternehmen für die unterschiedlichen Perspektiven seiner wichtigen Stakeholder zu sensibilisieren, deren Ansprüche zu antizipieren und mitzugestalten. Dies ist aber in der Welt des Nachhaltigkeitsparadigmas ein kritischer Erfolgsfaktor geworden. 
     
  4. Netzwerk
    Unternehmen sind heute erfolgreich, wenn sie auch über ein diversifiziertes Ökosystem aus unterschiedlichen Spielern und Institutionen verfügen. So wie Forschungspartnerschaften mit Wettbewerbern und wissenschaftlichen Einrichtungen für die Entwicklung notwendiger Technologien erforderlich sein können, so helfen Partnerschaften mit NGOs, multilateralen Regierungsorganisationen und Zulieferern bei der Entwicklung von Standards und Praktiken für eine nachhaltige Materialbeschaffung und Lieferkette. Die ESG-Expert:innen im Aufsichtsrat müssen in der Lage sein, einem Unternehmen bei der Gestaltung und Weiterentwicklung seines Ökosystems zu helfen. Sie bauen bereits auf ein breites Netzwerk an Entscheidungsträger:innen in unterschiedlichsten Unternehmen und Institutionen und haben die Fähigkeit, neue Netzwerkpartner:innen zu erschließen.
     
  5. Risiko und Reputation
    ESG-Expert:innen bringen einen sicheren Blick für die Unternehmensrisiken mit, die sich aus dem komplexen Zusammenspiel von wissenschaftlichen Erkenntnissen, politischen Strömungen, gesellschaftlichen Dynamiken, sich verändernden Kunden- und Konsumbedürfnissen, akuten Ereignissen sowie Gesetzgebung und Regulierung ergeben können. Als die EU-Kommission ihre anspruchsvollen Taxonomie-Anforderungen 2021 in Kraft setzte, war der Aufschrei zunächst groß – dabei hatte es ausgiebige Möglichkeiten zur Mitarbeit in der Vorbereitung und zu Stellungnahmen für Unternehmen gegeben.

ESG-Expert:innen im Aufsichtsrat sind Sparringspartner für Aufsichtsrat, CEO und Chief Sustainability Officer, Radarschirm für politische und gesellschaftliche Dynamiken sowie Brückenbauer:innen zwischen dem Unternehmen und seinen externen Stakeholdern. Vor allem aber sind sie Agent:innen des Wandels hin zu einer Kultur, in der unternehmerische Ideen und Handlungen den Zustand der Erde und der Menschheit verbessern. Echte Weltbürger:innen eben.

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