„Junge, wenn du nicht mehr weiter weißt, bleib bei der Wahrheit.“
Ein Gespräch zwischen OBI-Gründer Manfred Maus und Dirk Mundorf, Praxisgruppenleiter Human Resources bei Egon Zehnder, über Gier und Moral, mangelnden Mut zur Ehrlichkeit und die Frage, ob es werteorientierte Führung nicht doch nur auf dem Papier gibt.
Dirk Mundorf
Wir haben in der jüngeren Zeit in Gesellschaft, Sport und Wirtschaft wiederholt Skandale beobachten können, bei denen renommierten Personen und Unternehmen die Maßstäbe abhandengekommen zu sein schienen: Vom Steuerbetrug in Millionenhöhe bis zu gröbsten und illegalen Manipulationen am Produkt reichte die Bandbreite der Verfehlungen. Und immer wieder hatte man das Gefühl, dass sich entscheidende Gremien und Funktionsträger der jeweiligen Organisationen nicht wirklich dafür interessieren oder mit der notwendigen Konsequenz eindeutiges Fehlverhalten zu ahnden oder zu verhindern versuchen. Warum ist das so?
Manfred Maus
Das ist der Druck des Business, der Zwang zum Erfolg. Ich muss meine Zahlen erreichen. Ich muss punkten. Und wenn es nicht anders geht, wird halt gemauschelt. Immer in der Hoffnung, es wird schon niemand merken. Im Extremfall wird das Fehlverhalten als legitim betrachtet, weil man sonst eventuell die Pleite drohen sieht. Da draußen herrscht ein brutaler Wettbewerb, da greifen manche zu allen Mitteln, um sich durchzusetzen. Wenn es sein muss, eben auch zu Betrug.
Aber so ein Verhalten kommt immer irgendwann raus, und dann geht es an die Substanz. Die Kunden wandern ab und verachten das Unternehmen, die Mitarbeiter wenden sich ab, weil sie nichts mit solchen Machenschaften zu tun haben wollen. Oder sie bleiben und ziehen ihre Konsequenzen aus dem schnellen Verfall der Unternehmenskultur. Wenn die Unternehmensführung die Regeln nicht einhält oder es keine Regeln gibt, werden sich auch die Beschäftigten fragen, warum sie sich an bestimmte Verhaltensweisen halten sollen. Und dann beginnt eine Abwärtsspirale, die kaum noch aufzuhalten ist.
Dirk Mundorf
Wenn man sich die spektakulären Fälle in bekannten Häusern ansieht, stellt sich die Frage, wo eigentlich der Aufstand der Anständigen bleibt. Wenn Mitarbeiter das Fehlverhalten ihrer Führungskräfte bemerken, wenn sie sich eigentlich nicht mehr damit identifizieren können oder wollen, warum wehren sie sich nicht dagegen? Wo stellen sie sich solchem Verhalten entgegen? Kennen Sie Beispiele?
Manfred Maus
Ich könnte kein Beispiel nennen. Das ist nicht zuletzt auch eine Charakterfrage. Und deswegen fragen wir uns eigentlich immer, warum Personalberatungsgesellschaften diesen Punkt nicht ausreichend berücksichtigen. Es geht bei potenziellen Führungskräften immer nur um Wissen und nachweisbare Fähigkeiten, nicht aber um den Charakter. Dabei ist das ein entscheidender Faktor. Wenn ich mit Partnern Franchise-Verträge mit 20 oder 30 Jahren Laufzeit mache, dann ist das, als ob wir eine Ehe eingehen. Da müssen Sie doch den Charakter kennen, um zu beurteilen, ob Sie sich auf diese Leute verlassen können.
Dirk Mundorf
Diese Frage wird für unsere Klienten in der Tat immer wichtiger. Sie wollen nicht nur messbare Ergebnisse präsentiert bekommen, sondern fragen sehr gezielt danach: Wie hat der potenzielle Kandidat seine Ziele erreicht? Wie hat er sich verhalten, auch und gerade in kritischen Situationen? Hat er Prinzipien, welche Maßstäbe legt er bei seinen Handlungen an? Die Frage ist immer auch, wie reagiert ein Unternehmen auf mögliches Fehlverhalten? Welche Signale werden dabei ausgesendet, was wird wie geahndet – oder eben auch nicht? Und wie konsequent?
Manfred Maus
Konsequenz ist ein wichtiger Wert in einem Unternehmen, wenn es darum geht, eine bestimmte Unternehmenskultur zu schaffen, da kann ich Ihnen nur beipflichten. Es geht auch um den Umgang mit eigenen Fehlern. Was lebe ich vor? Wenn große Automobilhersteller plötzlich Tausende von Wagen zurückrufen wegen Problemen, scheuen die meisten doch davor zurück, sich für die Lieferung schlechter Ware zu entschuldigen. Oft wird nur mit dem Finger auf die Zulieferer gezeigt: Dieser hat ein schlechtes Teil geliefert, jener bei der Qualität nicht so genau hingeschaut. Aber das ist falsch. Wenn ich bei einer großen Marke einkaufe, will ich solche Ausreden nicht hören. Ich erwarte, dass die Marke für alle Probleme im Zusammenhang mit ihrem Produkt gerade steht. Aber mir sagen dann Manager von solchen Unternehmen: „Das geht nicht, Herr Maus, bei uns geht es um Umsatz. Da können wir nicht einräumen, dass wir etwas falsch gemacht haben.“ Worauf ich sage: „Wenn Sie sich entschuldigen, leidet doch nicht Ihre Reputation. Im Gegenteil, Sie werden viel glaubwürdiger.“ Aber da rennen Sie wirklich gegen eine Wand. Das ist meine Erfahrung.
Dirk Mundorf
Als ich in Asien gearbeitet habe, gab es einen Klienten, dessen Geschäft hervorragend lief, was vor allem auf eine Führungskraft zurückging, die ein eigentlich völlig unakzeptables Verhalten gegenüber Mitarbeitern an den Tag legte. Das hat sich auf das ganze Unternehmen ausgewirkt, woraufhin wir eingeführt haben, dass auch das Verhalten einer Führungskraft bonusrelevant ist. Man hat sich jedoch nie getraut, diese Person anzugreifen, weil sie ihre Vorgaben immer um 200 Prozent übererfüllt hat. Wir haben die Unternehmensleitung wiederholt darauf hingewiesen, dass man hier konsequent vorgehen müsste, um die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu untergraben. Beim nächsten Verbalausfall der Führungskraft wurde der Bonus um 80 Prozent gekürzt. Daraufhin hat er mit der Kündigung gedroht, weil er sich für unersetzbar hielt. Das Unternehmen hat ihn jedoch ziehen lassen, weil man konsequent sein wollte. Es war der richtige Schritt – und ein Befreiungsschlag noch dazu, denn sein Abschied öffnete Räume für andere sehr fähige Manager, die ihre Chance nutzten.
Manfred Maus
Damit stärkt man das Vertrauen in die eigene Organisation, die eigene Identität. Das ist ein ganz entscheidender Wert. Da bin ich sehr konsequent. Ein Beispiel: Einer meiner engsten Mitarbeiter hat sehr viel Geld verdient, fast eine Million. Der kam eines Tages und sagte mir: „Herr Maus, ich habe drei, vier Mal im Jahr mit Grundstücksmaklern zu tun. Die schieben die Visitenkarte über den Tisch, dann rechnen sie die Provision ab. Die verdienen mehr als ich, und ich arbeite Tag und Nacht.“ Dem habe ich gesagt: „Sie verdienen auch gut. Aber wenn Sie damit nicht einverstanden sind, müssen Sie Makler werden.“ Nach einem halben Jahr kam er wieder damit an, und er kam auch noch ein drittes Mal. An einem Samstagmorgen lese ich in einer großen Tageszeitung eine Personalanzeige und denke: „Das kann nur mein Mitarbeiter sein.“ Ich gehe ins Büro, er sitzt da. Ich frage: „Sind Sie das hier?“ Ja, er war es. Da habe ich gesagt: „Wir haben dreimal über dieses Thema diskutiert, ich möchte das nicht ein viertes Mal diskutieren. Bitte geben Sie mir den Haustürschlüssel, und gehen Sie nach Hause.“ Und er: „Um Gottes willen! Ich will doch nur meinen Marktwert testen, ob das, was Sie sagen – ich werde gut bezahlt – tatsächlich richtig ist.“ Aber meine Haltung war klar: „Nein, geben Sie mir den Schlüssel. Ich möchte mit Ihnen nicht weiter diskutieren. Sie sind einer meiner engsten Mitarbeiter. Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenarbeiten, wenn die Vertrauensbasis nicht vorhanden ist.“ Da hat er mir den Schlüssel gegeben.
Am Montagmorgen habe ich das meinen Geschäftsführern erzählt. Die sind fast umgefallen: „Die Trennung verstehen wir nicht. Dass Sie ein harter Hund sind, wissen wir. Aber dass Sie so autoritär sind, also nein!“ Und da habe ich gesagt: „Liebe Leute, jetzt diskutieren wir mal den Unterschied zwischen autoritärem und konsequentem Führungsstil. Ich bin nicht autoritär, sondern hier bin ich konsequent.“
Ich stimme Ihnen also zu. Wenn wir Werte haben, erwarte ich, dass wir diese Werte auch auf der Management-Ebene umsetzen.
Dirk Mundorf
Viele scheinen Angst davor zu haben, Werte konsequent zu leben, weil das ökonomische Implikationen haben könnte, so die Befürchtung. Wenn wir Fehler zugeben, was passiert dann mit unseren Umsätzen? Wenn ich Fehlverhalten von Führungskräften kritisiere, was passiert dann mit meiner Karriere?
Was muss also passieren, dass eine Wertediskussion entstehen kann, die ernsthaft geführt wird? Was ist Ihre Erfahrung?
Manfred Maus
Vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung von Nachhaltigkeit sieht eigentlich jeder ein, dass man die Kunden langfristig nicht an der Nase herumführen kann. Oder positiv betrachtet: Wenn Sie jemanden haben wie Herrn Hipp, der mit seinem Namen für die Qualität seiner Produkte steht und das jahrzehntelang konsequent verfolgt und ernsthaft betreibt, führt das auch zu einem langfristigen Erfolg. Entscheidend ist: Er lebt das vor. Sie brauchen in einer Organisation Vorbilder, glaubwürdige Vorbilder.
Dirk Mundorf
Das leuchtet sofort ein. Inwieweit hängt denn die Haltung und die Vorbildfunktion auch von der Unternehmensform ab? Sie oder Herr Hipp als Unternehmer sind da ja vielleicht freier als der Manager einer Kapitalgesellschaft, der um jeden Preis bestimmte Renditen erwirtschaften muss, während Sie sich mit der Ihnen verliehenen Autorität für mehr Nachhaltigkeit und weniger Profitabilität entscheiden können.
Manfred Maus
Das höre ich natürlich immer wieder: Wir sind durch den Wettbewerb so unter Druck, wir können gar nicht anders. Aber auf längere Sicht ist die einzig mögliche Unternehmenskultur, ehrlich zu sein und dafür zu sorgen, dass wir zufriedene Kunden haben. Und zufriedene Kunden habe ich nur, wenn ich zufriedene Mitarbeiter habe. Wenn die Mitarbeiter merken, dass ich nicht ehrlich bin, dass ich irgendwo manipuliere, wird das eines Tages von ihnen nicht mehr akzeptiert.
Dirk Mundorf
Dann gibt es aber den Mitarbeiter, der Angst um seinen Job hat, wenn er die Vorgaben nicht erfüllt. Der lieber die Füße still hält, als sich zu wehren oder auf die Einhaltung von Werten zu pochen. Der zwar innerlich schon lange gekündigt hat, aber aus ökonomischen Zwängen heraus weitermacht, weil er keine Alternative sieht. Von dem kann man kaum eine starke Haltung erwarten, wenn sie schon von den Kontrollgremien wie dem Aufsichtsrat nicht immer gezeigt wird.
Manfred Maus
Schlimm genug. Aber die Frage der Offenheit ist ganz entscheidend: Wie offen gehen wir in der Organisation miteinander um? Muss ich als Mitarbeiter Angst haben, wenn ich kritikwürdige Zustände anspreche? Oder kann ich zu meinem Vorgesetzten gehen und sagen: „Ich kann mich damit nicht identifizieren, das ist nicht in Ordnung?“
Offenheit ist eine ganz wichtige Geschichte. In China wollte mir ein Berater einmal klarmachen, dass man bei der Expansion nur weiterkommt, wenn man etwas unter den Tisch schiebt, das sei dort halt so, darauf müsse man sich eben einstellen. Aber mit mir und meinem Gewissen ist so etwas nicht zu machen. Auch nicht getarnt als Rechnung für irgendwelche Dienstleistungen. Ich habe es dann gelassen und bin abgereist. Da war der ganz baff und hat gefragt: „Wo kommt das denn her, dieses Gewissen?“ Gute Frage. Das Gewissen ist mein innerer Kompass, und wenn ich darüber nachdenke, kommt das vom Elternhaus, durch die Erziehung. Eltern leben Werte vor, sie sind die Vorbilder. Für mich waren es immer die einfachen Dinge: Wenn ich gesagt habe, wir treffen uns um 14 Uhr, und jemand kam zwanzig Minuten später, war der schon bei mir im Minus. Die Entschuldigungen kann ich auswendig runterbeten: Verspätung hier, Stau da, und alles Mögliche. Er soll doch ehrlich sein und sagen, dass er zu spät aufgestanden oder zu spät losgefahren ist.
Dirk Mundorf
Wir fragen Kandidaten, wie sie die Situation in Unternehmen beurteilen, die gerade in den angeführten Schwierigkeiten stecken, um besser zu verstehen, wie deren Geisteshaltung ausgeprägt ist. Sehen sie das moralische Problem – oder betrachten sie die Fälle nur aus einer rein pragmatisch, technischen Sicht?
Und wir fragen: Wenn Sie dort CEO wären, was würden Sie machen? Einfach um mal zu sehen, was der Kandidat sich vorstellen und was er sich nicht vorstellen kann, wie breit er denkt. Es geht am Ende in jedem Unternehmen darum, ob es ein Korrektiv gibt – und wer das ist.
Manfred Maus
Oft ist es auch so, dass man das jeweilige Problem auf unteren Ebenen einsieht, aber sich alle machtlos fühlen, weil es von der Unternehmensspitze nicht erkannt wird. Der Filialleiter aus Köln weist zur nächst höheren Stelle nach Düsseldorf, die wiederum weist mit dem Finger zur Zentrale nach Frankfurt. Alle warten auf das Signal von oben.
Dirk Mundorf
Wobei ich das so nicht akzeptieren würde. Wenn ich heute eine Filiale führe, kann ich zumindest in meinem Zuständigkeitsbereich darauf achten, dass gewisse Prinzipien, Werte und Regeln gelten und eingehalten werden. Und wenn man das durchzieht, hat das vielleicht wieder positive Anschlusseffekte für andere Filialleiter, die sich bestärkt fühlen.
Manfred Maus
Da stimme ich Ihnen voll zu. Nur, Sie haben dann Menschen, die sagen: „Ich habe es versucht, aber ich habe keine Chance, wenn sich das da oben nicht ändert.“
Dirk Mundorf
Wenn wir über Fehler und Werte reden: Warum fehlt die Fähigkeit, Reue zu zeigen? Was sind die tieferen Gründe dafür? Fehlen Vorbilder? Eine Margot Käßmann hat nach ihrem Fehlverhalten sofort Reue in der Öffentlichkeit gezeigt, damit hat sie sogar noch an Reputation gewonnen.
Manfred Maus
Das stimmt! Egal, wo sie heute auftritt, das Haus ist immer voll, wenn sie spricht. Aber warum das bei Unternehmen nicht klappt, kann ich Ihnen nicht sofort sagen. Den meisten stünde es ja nur zu gut zu Gesicht, Fehlverhalten offen zuzugeben und dadurch ein Stück Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen: „Junge, wenn du nicht mehr weiter weißt, bleib bei der Wahrheit“, das hat meine Großmutter immer und immer wieder gesagt.
Dirk Mundorf
Sehen wir irgendwo Beispiele dafür, dass eine Gesellschaft Unternehmen für unethisches Verhalten abstraft?
Manfred Maus
In vielen Bereichen der Gesellschaft haben wir eine sehr lebendige Wertediskussion. Den Menschen sind diese Größen offensichtlich wichtig und sie reagieren, wenn sie den Eindruck haben, dass eine bestimmte Position oder Partei eben nicht diesen Werten entspricht. Aber ausgerechnet in der Welt der Unternehmen scheinen diese Mechanismen zu oft nicht zu funktionieren. Da gibt es auch nicht die Möglichkeit, zu sagen: „Ich wähle jetzt meinen Vorstandsvorsitzenden ab.“ Oder: „Ich wähle meinen Bereichsvorstand ab, denn so, wie der sich hier verhält, geht das nicht. Ich reiche jetzt eine Petition beim Vorstand ein.“ Im Wirtschaftsleben legen die Menschen andere Maßstäbe an. Das trägt dazu bei, dass hier noch zu selten vor der eigenen Tür gekehrt wird.
Dirk Mundorf
Das bedeutet aber, dass Manager – wie Unternehmer – vollumfängliche Verantwortung übernehmen können. Teilhabe ist in der Tat wichtig. Sie sind Unternehmer – wie haben Sie das umgesetzt?
Manfred Maus
Manager sollten bestenfalls wie Unternehmer beteiligt sein – und ja, dafür habe ich mich in ganz außergewöhnlichen Fällen immer wieder eingesetzt. Wenn ein Marktleiter mehrere gute Bilanzen abgeliefert hat, dann habe ich ihm nicht das Gehalt erhöht. Der hatte schon eine Million verdient. Wenn ich ihm jetzt noch 10 Prozent draufgelegt hätte, hätte das nicht sehr viel bewirkt. Ich habe ihm stattdessen 10 Prozent der Anteile des Marktes zum Kauf angeboten. Er hat ein Darlehen aufgenommen, es zügig getilgt, hatte damit Eigentum für sich und seine Familie. Ich habe gesehen, dass es nichts Motivierendes gibt als diese Art der Teilhabe, die dann auch zu positiven unternehmerischen Entscheidungen führt.
Dirk Mundorf
Das ist beeindruckend. Lassen Sie mich noch einmal auf einige aktuelle Trends zu sprechen kommen. Wir reden über den demografischen Wandel, wir reden über Digitalisierung und über Industrie 4.0. Die Mitarbeiter und die Organisationen müssen mit vielfältigsten Herausforderungen und Veränderungen umgehen, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht Human Resources, um Veränderungen unter Berücksichtigung der Unternehmenswerte stärker zu unterstützen? Das ganze Unternehmen muss ja in solche Prozesse des Wandels eingebunden werden, weil sie sonst nicht wirklich verankert und verinnerlicht werden.
Manfred Maus
Das ist völlig richtig. Alle wehren sich gegen Wechsel und Wandel. Man braucht Menschen, die einen solchen Wandel vorantreiben und dabei durch ihre Haltung und Werte zu überzeugen wissen. Solche Führungspersönlichkeiten, und das ist ein interessanter und wichtiger Punkt, werden heute aber nur noch dorthin gehen, wo sie eine Kultur finden, die ihnen zusagt und in der sich eine glaubwürdige Perspektive bietet, sich zu entwickeln. Auch deshalb ist das Image eines Unternehmens ein bedeutender Faktor bei der Gewinnung von Managern. Die besten der jüngeren Generation werden heute beispielsweise nicht mehr in eine Organisation gehen, die autoritär geführt wird.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich stehe in einer Klinik im Flur zusammen mit dem Chefarzt einer Abteilung. Dahinter stehen zwei Oberärzte und drei Assistenzärzte. Ich frage den Oberarzt: „Darf man Ihrem Chef widersprechen?“ Da antwortet nicht der Oberarzt, sondern der Chefarzt: „Herr Maus, selbstverständlich darf man mir widersprechen.“ Der Oberarzt steht hinter ihm und macht immer so eindeutige Zeichen. Als der Chefarzt weg ist, frage ich: „Warum haben Sie denn den Kopf geschüttelt?“ Da sagt er: „Herr Maus, wenn Sie einem Chefarzt widersprechen, ist Ihre Karriere zu Ende. Wissen Sie das nicht? Das ist in der gesamten Krankenhauswelt so.“ Da konnte ich ihm auch nur sagen: „Sie werden bald keine jungen Ärzte mehr bekommen, die dieses Verhalten akzeptieren.“
Dirk Mundorf
Die Frage ist nur, wie lange dauert es, bis solche fundamentalen Botschaften bei den eigentlichen Entscheidungsträgern ankommen.
Manfred Maus
Wenn man einen Change-Prozess einleiten will, reicht es eben nicht, nur an ein, zwei Stellen Leute auszutauschen. Sie müssen die ganze Mannschaft mitnehmen und klar kommunizieren: „Wir müssen dies und das verändern.“ Zu diesem Vorgehen gibt es keine Alternative, man muss einen Prozess einleiten.
Aber das Wichtigste ist, man muss die Menschen mitnehmen. Und Sie dürfen nicht denken, dass Sie alles wissen, nur weil Sie CEO sind. Sie müssen Ihren Vorstand mitnehmen, auch den HR-Chef, und dann alle. Die besten Ideen kriegen Sie ohnehin von Ihren Mitarbeitern und von Ihren Kunden. Deshalb sagen wir ja auch: „Du musst die Potenziale entwickeln, nicht die Ressourcen nutzen.“
Dirk Mundorf
Wenn wir über Werte und Vorbildfunktionen reden, geht es ja auch um das ganz persönliche Verhalten. Wie wichtig schätzen Sie Ihr eigenes Verhalten für das Verhalten der Mitarbeiter ein?
Manfred Maus
Das können Sie gar nicht überschätzen. Ein kleines Beispiel, um zu verdeutlichen, was für Auswirkungen das haben kann.
Ich habe meiner Sekretärin von Anfang an gesagt: „Ich erwarte von Ihnen, dass jeder Brief innerhalb von 24 Stunden beantwortet ist.“ Da hat sie gesagt: „Das geht nicht.“ Ich habe gesagt: „Jetzt zeige ich Ihnen mal, wie ich mir das vorstelle. Wenn der Brief kommt, dann antworten Sie: „Vielen Dank für Ihren Brief. Wir versuchen, Ihnen so schnell wie möglich eine Antwort zu geben, Herr Maus ist im Augenblick unterwegs.“ Und dann geben Sie den Brief an die entsprechende Abteilung weiter. Das hat wunderbar funktioniert, und ich habe mir jedes Jahr einmal von allen Mitarbeitern Feedback zu meinem Führungsstil eingeholt. Einmal schrieb mir ein Mitarbeiter: „Herr Maus, ich bin von Ihnen sehr enttäuscht. Sie halten sich nicht an die Regeln und die Werte, die Sie selber vorgetragen haben. Ich habe Ihnen an dem und dem Tag einen Brief geschrieben und bis heute keine Antwort bekommen.“ Ich habe zu meiner Sekretärin gesagt: „Wie ist das möglich?“ Sie sagte: „Ich habe diesen Brief in den Einkauf gegeben, und der Einkauf hat diesen Brief innerhalb von 10 Tagen beantwortet, da war alles in Ordnung.“ Jetzt konnte ich diesem Mann entgegnen: „Du hast eine Antwort bekommen.“ Er kam aber zurück und sagte: „Herr Maus, ich habe die Erwartung, dass, wenn Sie einen Brief von mir bekommen, Sie ihn beantworten, nicht der Einkäufer. Sie haben selbst immer gesagt, Erwartungen müssen erfüllt werden. Und wenn Sie die Erwartungen nicht erfüllen, sind die Menschen enttäuscht.“
Da haben wir eine neue Regel eingeführt: Die Sekretärin bekommt eine Kopie des Schreibens der antwortenden Abteilung, und dann schreibt sie: „Sie haben die Antwort bekommen. Sind Sie einverstanden? Herr Maus lässt Ihnen schöne Grüße ausrichten.“ Seitdem gibt es überhaupt keine Diskussion mehr. Wenn mir jemand einen Brief schreibt, möchte er von mir eine Antwort haben, Punkt.
Das ist für mich Teil unserer Kultur. Der Mensch, der Mitarbeiter, muss sich ernst genommen fühlen, wenn er mir Feedback gibt. Diese Offenheit ist ganz, ganz wichtig und eine wichtige Quelle der Information für jeden Unternehmenslenker.
Zu Manfred Maus
Als Manfred Maus 1970 OBI gründete, sprach man noch nicht von Disruptoren. Doch mit seinem Kundenfokus und seinem Drang, völlig neue unternehmerische Felder zu erschließen, setzte er neue Standards. Bis zur Gründung der Baumarktkette gab es für Heimwerker kein Dach, unter dem alles zu haben war. Außerdem brachte er die unbekannte Franchise-Idee nach Deutschland. Manfred Maus, Jahrgang 1935, ist heute vor allem als Redner und Impulsgeber gefragt, wenn es um werteorientiertes wirtschaftliches Handeln geht. Er berät zahlreiche Unternehmen in Beirats- und Aufsichtsratsfunktionen und ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. Manfred Maus ist Mitgründer der Beratung Synercube, die sich auf Veränderungsprozesse in Unternehmen spezialisiert hat.