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Zusammenhänge dort aufzuspüren, wo sie nicht vermutet werden, Disziplinen zu verknüpfen, die unterschiedliche Fragen behandeln, Muster zu erkennen, wo der Zufall zu walten scheint, so ließe sich das Denken des Physikers, Systemtheoretikers und Philosophen Fritjof Capra und sein Blick auf unsere Welt charakterisieren. Im Interview mit FOCUS erläutert er seine Sicht auf Unternehmen als dynamische Netzwerke und auf die Aktualität der Arbeiten des Renaissance-Künstlers Leonardo da Vinci.
Focus: Ihr erstes großes Buch „Das Tao der Physik“ trägt in der deutschen Übersetzung den Untertitel: „Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Philosophie“. Wo liegt die Verbindung zwischen beiden?
Fritjof Capra: Wir haben in der westlichen Physik des 20. Jahrhunderts erkannt, dass unser alltägliches Weltverständnis nur begrenzt gültig ist. Im Bereich des Atomaren und Subatomaren lösen sich getrennte Einheiten quasi auf und erscheinen als ein einziges Netzwerk energetischer Beziehungen. Während die östlichen Philosophen seit jeher sagen, dass die Welt der getrennten Elemente eine Illusion ist, musste die moderne Physik das in den siebziger Jahren erst langsam akzeptieren lernen. Werner Heisenberg hat damals mit der Unschärferelation erklärt, dass wir die Objekte zwar als voneinander getrennt definieren können, dass eine solche Definition aber immer nur annäherungsweise gültig und vom Beobachtungsprozess selbst abhängig ist. Diese große Einsicht der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts erschien mir nicht nur als vereinzelte Parallele, sondern als wirkliche Annäherung.
Focus: Wo stehen wir heute hinsichtlich der Einsicht, dass moderne Physik und östliche Mystik ein gemeinsames Weltbild teilen?
Capra: Die Wissenschaft hat den Paradigmenwechsel weitgehend akzeptiert. Als ich aber noch Anfang der siebziger Jahre einen Vortrag am CERN, dem Europäischen Zentrum für Teilchenphysik hielt, sprachen viele berühmte Physiker zwar sehr nett mit mir, nahmen meine Arbeiten jedoch nicht wirklich ernst. Ich war für sie nicht viel mehr als gute Unterhaltung. Vor ein paar Jahren nun hat das CERN seinen 50. Geburtstag gefeiert und zu diesem Anlass vom Staat Indien eine große Shiva-Statue aus Bronze erhalten. Unterhalb der Statue ist eine Tafel angebracht, auf der das „Tao der Physik“ mit dem kosmischen Tanz der Teilchen zitiert wird. Das hat mich natürlich sehr gefreut. Ich glaube sogar, dass die beschriebene Annäherung heute noch weiter fortgeschritten ist. Der Zusammenklang zeigt sich nicht nur in der Physik, sondern auch in der Biologie, den Kognitionswissenschaften und den Sozialwissenschaften. Mittlerweile findet ein wirklicher Dialog – Konvergenz im Sinne von Zusammenfließen – der Traditionen und Praktiken des Westens und der östlichen Mystik statt.
Focus: In Ihrer Publikation „Verborgene Zusammenhänge“ wagen Sie sich in die Sozialwissenschaften vor. Was hat Sie als Naturwissenschaftler an der Frage interessiert, wie Menschen ihre Zusammenarbeit organisieren?
Capra: Mit dem Thema habe ich jahrelang gerungen. 1996 hatte ich mich mit „Lebensnetz“ mit biologischen und kognitiven Dimensionen des Lebens beschäftigt. In „Verborgene Zusammenhänge“ weite ich das Thema auf die soziale Dimension aus und baue eine Synthese, die alle drei Seiten des Lebens integriert, die biologische, kognitive und soziale. Ich wollte wissen: „Kann man eine menschliche Organisation als ein lebendes System beschreiben und warum und wie?“
Focus: Welche Antwort haben Sie gefunden?
Capra: Die Antwort lautet: ja und nein. Jede soziale Organisation, jedes Unternehmen hat eine Doppelnatur. Sie sind zu einem bestimmten Zweck geplant und wurden mit einem passenden Design versehen. Wenn es sich um ein Wirtschaftsunternehmen handelt, ist ihr Ziel Profit, wenn wir es mit einer Glaubensgemeinschaft zu tun haben, soll sie den religiösen Glauben stärken und verbreiten. Das ist die eine Natur sozialer Organisationen. Sie bestehen aber auch aus Gemeinschaften von Menschen, und als Lebewesen neigen sie dazu, sich miteinander auszutauschen und informelle Netzwerke zu bilden – in der Theorie Praxisgemeinschaften genannt. Diese Netzwerke allein sind es, die eine Organisation lebendig machen. Zu einem gewissen Grad sind Wirtschaftsunternehmen lebende Systeme. Je mehr vernetzte Beziehungen sie haben und je mehr diese unterstützt werden, desto lebendiger ist das Unternehmen – das heißt desto anpassungsfähiger, flexibler und kreativer.
Focus: Und doch vergleichen viele Theoretiker Unternehmen mit Maschinen …
Capra: Die Gefahr ist in der Tat groß, dass wir uns auf nur eine Natur beschränken und die andere vernachlässigen. Mit dem gängigen mechanistischen Unternehmensverständnis betrachten wir den konstruierten Teil. Aus dieser Perspektive kann man ein Fine-Tuning und Re-Engineering vornehmen, übersieht aber, dass Unternehmen informelle Netzwerke sind. Um diese Natur zu berücksichtigen, bedarf es eines ganz anderen Zugangs. Damit geht auch ein Wechsel von einem quantitativen zu einem qualitativen Ansatz einher, denn menschliche Beziehungen können nicht quantifiziert werden. Das hat auch Auswirkungen auf den Führungsstil. Es geht weniger darum, Anweisungen zu geben, als vielmehr ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Lebendigkeit des Unternehmens entfalten und Kreativität wirken kann.
Focus: Setzen Unternehmen das bereits um, oder werden sie immer noch wie Maschinen gesteuert?
Capra: Die Schwierigkeit für Unternehmen liegt darin, dass sie sich in einem Umfeld bewegen, das diesen Ideen noch keineswegs entspricht. Die Kriterien, nach denen Unternehmen von ihrer Außenwelt beurteilt werden, sind oft rein quantitativ. Da geht es darum, was unter dem Strich geliefert wird. Die Frage aber, ob die Menschen in ihrer Leistungskraft unterstützt werden, Ideen einbringen, und ihre Potentiale für das Unternehmen entfalten können, wird nicht geprüft. Unternehmer, die wirklich an einen neuen Führungsstil glauben, müssen zweigleisig fahren und darauf achten, sowohl quantitative als auch qualitative Forderungen zu befriedigen.
Führungskräfte, die diesen neuen Führungsstil pflegen sind sehr intuitiv und kreativ. Sie führen nicht nur über die formellen Strukturen eines Unternehmens, sondern auch über die informellen. Die formellen Strukturen sind diejenigen, die entworfen und geplant wurden. Die informellen Strukturen sind die Netzwerke, die sich bilden und verändern – das ist der kreative und flexible Teil des Unternehmens. Ohne die formellen Strukturen kann man ein Unternehmen nicht führen. Gäbe es aber nur formelle Strukturen, würde das Unternehmen früher oder später zum Stillstand kommen, dann würde weitgehend nur noch Dienst nach Vorschrift, aber nicht viel mehr gemacht. Dieses „Mehr“ läuft über die informellen Ressourcen: Man hilft und unterstützt sich, lernt von- und miteinander, entwickelt sich und das Unternehmen weiter. Die informellen Strukturen sind wie die Schmiere, die die Maschine laufen lässt, um noch einmal mechanistisch zu denken. Die Herausforderung an die Unternehmensführung ist, ein Zusammenspiel zwischen formellen und informellen Strukturen zu schaffen.
Focus: Wie erneuern sich Unternehmen?
Capra: Unternehmen sind Beziehungsnetzwerke, in ihnen findet Feedback statt – Impulse werden aufgegriffen und kommen durch Schleifen wieder zurück. In solchen Beziehungsgeflechten kann eine kleine Störung, ein kleiner Impuls sich wiederholen, aufgegriffen und weitergetragen werden, größere Ausmaße annehmen und sich zu einer echten tiefen Krise auswachsen.
Auslöser kann ein beifällig geäußerter Kollegen-Kommentar sein, der Mitarbeiter aufstört und verunsichert. Eine sich derart entwickelnde Störung kann dann nicht mehr einfach absorbiert werden. Sie führt zu einer Verunsicherung und löst eine tiefe Instabilität des Systems aus. Menschen zweifeln an Bewährtem und stellen Strukturen und Prozesse in Frage. Aus diesem chaotischen Zustand heraus entsteht dann spontan etwas Neues. Theoretiker nennen das Emergenz. Sie wird nicht gesteuert, sondern tritt hervor als das Ergebnis kollektiver Kreativität.
Focus: So hängen Krisen, zuweilen existentielle Krisen und Kreativität eng zusammen?
Capra: Ja, besonders Künstler erleben sehr stark, wie Krisen einen kreativen Prozess auslösen. Marcel Proust hat diesen Zusammenhang in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ wunderbar auf den Punkt gebracht, wenn er beschreibt, dass mangelnde Kreativität uns auch davon abhält, an unsere Leidensgrenzen zu gehen, während existentielles Leiden an der Welt auch das Glücksgefühl mit sich bringt, neue und überraschende Formen zu entdecken. Unternehmenskrisen sind natürlich weniger emotional als Künstlerkrisen. Aber aus Verunsicherung und Kontrollverlust kann Neues entstehen.
Focus: Wie können Unternehmen Emergenz fördern?
Capra: Sie müssen Störungen erlauben, offen für Impulse von außen sein, dürfen sich nicht abschotten. Kreativität braucht offene Systeme. Ich nenne das „deciding to be disturbed“. Führungskräfte müssen verstehen, dass Verunsicherung Teil des kreativen Prozesses ist, und sie müssen Vernetzungen ermöglichen.
Focus: Was macht in Ihren Augen eine ideale Unternehmensführung aus?
Capra: Idealerweise verkörpert sie zwei Typen von Führungspersönlichkeiten: Der eine Typ steht für Stabilität, Werte, eine klare Vision und präzise Ausrichtung des Unternehmens. Der andere Typ fördert Offenheit und Emergenz. Er schafft eher Arbeitsbedingungen, als dass er Richtungen vorgibt. Vielleicht kann man sagen, dass sich dieses Ideal verwirklichen lässt, wenn es mehr Frauen und eine Vielfalt von Kulturen auf den höheren Unternehmensebenen gibt. Und: Es ist in unserer Zeit besonders wichtig, Räume zu schaffen, in denen die Menschen nachdenken und miteinander in Beziehung treten können.
Focus: Ihr jüngstes Buch handelt von Leonardo da Vinci. Was hat Sie am Renaissance-Künstler interessiert?
Capra: Seine Arbeit und sein Leben haben mich schon seit den Tagen des „Tao der Physik“ fasziniert. In dieser Zeit habe ich in London gelebt und mich mit der Geschichte der Naturwissenschaft beschäftigt und bin durch Zufall auf ein Zitat von Leonardo gestoßen: „First I shall do some experiments before I proceed farther …“ Leonardo forderte einen empirischen Forschungsansatz, mit dem er seiner Zeit damals weit voraus war. Am Anfang aller Erkenntnis stehe die Beobachtung der Natur. 20 Jahre später habe ich eine große Leonardo-Ausstellung gesehen. Dort ist mir aufgefallen, dass es in seinen Zeichnungen um Abwandlungen von Mustern geht. So vergleicht er Spiralen im Pflanzenwuchs mit Spiralen im menschlichen Haar. Maschinenbau war zwar seine große Stärke, und er hat viele Maschinen erfunden, aber sein Weltbild war organisch. Mit dieser Weltanschauung ist er sehr zeitgemäß, und davon handelt mein Buch.
„Wir brauchen heute das vernetzte Denken eines Leonardo da Vinci mehr denn je.“
Focus: Worin genau liegt seine Aktualität?
Capra: Wir brauchen das vernetzte Denken eines Leonardo da Vinci mehr denn je. Leonardo war der Prototyp eines systemischen Denkers. Ein Problem zu verstehen, bedeutete für ihn immer, es in Beziehung zu anderen Phänomenen zu setzen und eine Ähnlichkeit von Mustern zu erkennen. Unsere heutigen Weltprobleme sind alle miteinander vernetzt. Keines können wir isoliert behandeln, weil sie vielschichtig sind und die Verflechtung von Gedankengängen erfordern. Außerdem ist der ökologische Leonardo, den ich entdeckt habe, hochaktuell. Er hatte einen tiefen Respekt vor der Natur und benutzte die Natur als Lehrmeisterin.
Focus: Sie beobachten seit Dekaden, wie wir mit unserer Welt umgehen. Sind Sie im Laufe der Zeit pessimistischer geworden?
Capra: Einerseits bin ich skeptischer geworden, weil ich sehe, wie engstirnig und kurzsichtig Politik gemacht wird. Ich bin andererseits aber auch optimistisch, weil ich sehe, dass sich der Paradigmenwechsel von der Maschine zum Netzwerk immer stärker durchsetzt. Vor allem die jüngere Generation lebt in Netzwerken. Sie gehen zu einer bestimmten Verabredung, sie wissen nicht, wo sie sich treffen und wann, aber sie finden sich. Sie haben einen ganz anderen Umgang mit Zeit und Raum. Ich glaube, dass sich eine Praxis herausbildet, die Ausdruck eines vernetzten Weltbilds ist.
Das Interview mit Fritjof Capra im Center for Ecoliteracy in Berkeley, USA, führten Joanne W. Yun, Egon Zehnder International, San Francisco, und Ulrike Mertens, FOCUS (rechts).
Fritjof Capra
Der 1939 in Wien geborene Wissenschaftler und Autor kann als „Altmeister der Konvergenz” gelten. Seine Heimatdisziplin ist die moderne Physik, doch bereits in den siebziger Jahren spannte er seine theoretischen Fäden weit darüber hinaus und verknüpfte die Erkenntnisse der modernen Physik mit Einsichten aus westlicher und östlicher Philosophie, aus Biologie, Psychologie und Soziologie. Der promovierte Physiker publizierte 1975 sein erstes populärwissenschaftliches Buch „Das Tao der Physik“ und wurde zu einem weltweit vielbeachteten und -diskutierten Autor. Nur wenige Jahre danach erschien „Wendezeit“ (1982), das die Debatte über die Zukunft der Menschheit maßgeblich mitprägte und bis in New-Age-Kreise hineinwirkte. Seit einigen Jahren wendet Capra seinen systemtheoretischen Ansatz auch auf die Analyse sozialer Organisationen an, wie zum Beispiel in „Verborgene Zusammenhänge“ (2002). In seiner jüngsten Publikation „The Science of Leonardo“ (2007) beschäftigt er sich mit Leonardo da Vinci und zeichnet das Bild eines modernen, ganzheitlich denkenden Menschen, der – seiner Zeit weit voraus – uns heute als Vorbild dienen könne.
FOTOS: JÜRGEN FRANK