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Eine neue Kultur der Teilhabe

  • November 2015
Der Künstler Ólafur Elíasson und Alexander Ljung, Internet-Entrepreneur, über die Anziehungskraft eines kreativen Clusters und Werte als Bindeglied zwischen Denken und Handeln.

Alexander Ljung und Ólafur Elíasson trafen sich in Elíassons Atelier in Berlin. Der Künstler hat eine ehemalige Brauerei in Prenzlauer Berg zu einem beeindruckenden Studio umgebaut; eine Mischung aus Werkstatt und Labor, in dem seine großformatigen, technisch wie künstlerisch anspruchsvollen Objekte und Installationen entstehen. Die Geräusche der künstlerischen Arbeit von Elíassons Team hallten auch während seines Gesprächs mit dem Gründer des Vorzeige-Start-ups SoundCloud durch das Gebäude und kollidierten gelegentlich mit den Worten. Etwaige Verständigungsschwierigkeiten beschränkten sich aber rein auf das Akustische, denn Elíasson und Ljung hatten sich viel zu sagen – zu den Verbindungen zwischen Kunst, Technologie und neuen Medien, über die Lust am Experimentieren und weshalb bestimmte Orte dabei besonders inspirierend wirken. Und warum sowohl die Kunst als auch das Geschäft nicht nur um ihrer selbst willen betrieben werden, sondern einen höheren Zweck verfolgen sollten.

Alexander Ljung: Interessant, nicht wahr, dass wir zwei Skandinavier uns ausgerechnet hier in Berlin treffen. Was hat dich hierher gezogen, Ólafur?

Ólafur Elíasson: Ich bin jetzt 20 Jahre hier, ich habe also fast die Hälfte meines Lebens in dieser Stadt verbracht. Am naheliegendsten wäre wohl der Verweis auf Berlins lebendige künstlerische und kreative Szene … Aber ich würde gern ein bisschen tiefer gehen: Wie wirkt sich eine dynamische Community wie diese eigentlich in der Praxis aus, und warum spielt das für mich als Künstler eine Rolle? Historisch gesehen ist Berlin in der modernen Geschichte bislang der einzige Ort der Welt, wo eine vergleichbare Situation wie die heutige schon früher einmal bestanden hat. Vor ungefähr 100 Jahren herrschte in dieser Stadt eine ähnliche kreative Dichte wie jetzt. Natürlich hat es auch anderswo Höhepunkte gegeben, zum Beispiel im Paris der zwanziger Jahre oder im New York der Siebziger, aber die Ballung von Kreativität hier in Berlin ist heute ebenso beispiellos wie vor 100 Jahren. Eine solche Fülle ist ein idealer Nährboden für Experimente und Kreativität. Hier findet man Hunderte Antworten auf jede Art von künstlerischer Herausforderung. Und wenn an einem Ort eine Menge Talent versammelt ist, fördert das auch die Qualität.

Ljung: Mich hat vor allem die einzigartige Verknüpfung von Kunst, Technologie und Medientheorie fasziniert, die wir so nur in Berlin gefunden haben. Hier gibt es Leute, die interaktive Installationen schaffen, andere experimentieren mit Schnittstellen zwischen Technologie und Kunst, wieder andere gehen die Dinge aus rein künstlerischer Sicht an. Als wir mit SoundCloud noch in Stockholm waren, fand sich zu sehr spezifischen technischen oder musikalischen Fragen oft jemand in Berlin, der genau an dem betreffenden Thema arbeitete. Die Entscheidung, unser Unternehmen hier anzusiedeln, fiel aber trotzdem sehr spontan. Zum Teil gab die Stadt selbst den Ausschlag, zum Teil die schiere Fülle von Künstlern und kreativ Tätigen. Hier gab und gibt es eine besondere Stimmung, eine Art Gegenkultur mit sehr viel Freiraum, in dem jeder seine eigenen Vorstellungen realisieren kann. Die geografische Lage war uns gar nicht so wichtig. Wir standen ganz am Anfang mit unserer Idee, dass im Internet etwas sehr Entscheidendes fehlte, und wir hatten beschlossen, diese Lücke zu schließen. Dabei hatten wir das Gefühl, dass uns das in Berlin leichter fallen würde. Wie sah es denn vor 20 Jahren aus, als du hierher gezogen bist?

Elíasson: Damals zog es viele Leute hierher, es herrschte Aufbruchsstimmung. Berlin bot viel offenen Raum, viele Dinge hatten noch keine Gestalt – oder zumindest keine endgültige – angenommen. Die Stadt bestand sozusagen mehr aus den Lücken zwischen Räumen als aus definierten Räumen selbst. Die Leute waren nicht nur damit beschäftigt, ihre Positionen und ihre Identität zu klären, sondern auch den Kontext, in dem das passieren sollte. Der Mangel an Zweckbestimmtheit des öffentlichen Raums zum Beispiel ließ sehr unterschiedliche Auslegungen zu: Können wir diesen Abschnitt des Bürgersteigs nicht einfach in eine Galerie verwandeln oder in ein Theater oder den Schauplatz für ein kleines Poesiefestival? Plötzlich hatte man eine Situation, in der Straße und Künstleratelier verschmolzen und der Begriff öffentlicher Raum nicht nur Zugänglichkeit bedeutete, sondern gedanklich ganz neu belegt wurde. Diese äußere Gestaltungsfreiheit schuf eine Atmosphäre, in der sich Literatur, Theater, darstellende Kunst, Sprachkünste wie Poesie oder Gesang und Künstler auf Augenhöhe begegneten. Für junge Leute war das eine höchst lehrreiche Erfahrung, zumal in den frühen neunziger Jahren noch die Krise der späten Achtziger nachklang, als der Kunstmarkt in London, New York, Paris und anderswo zusammengebrochen war. Kreativität musste danach ohne kommerzielle Plattformen auskommen, und hier in Berlin zeigte sich, dass sie es auch sehr gut konnte. Die Aufhebung aller Grenzen wirkte auf jeden Fall sehr befreiend. Gleichzeitig bedeutete sie aber auch eine Herausforderung, denn Grenzen sind als Grundlage kontextbezogener Sprache unverzichtbar. Den Künstlern wurde folglich einiges abverlangt.

Ljung: Ich glaube, das spürt man in Berlin heute noch. Die Aufhebung von Grenzen wirkt befreiend und belastend zugleich; vor allem, wenn man versucht, etwas Neues zu schaffen. Für mich zumindest ist Grenzenlosigkeit eine echte Herausforderung. Das gilt auch für den Gedanken von offenem oder nicht definiertem Raum. Prinzipiell kann also jeder diesen Raum beanspruchen; erst recht, wenn er keine erkennbaren physischen Grenzen hat, wie das im Internet ja der Fall ist. Ich habe erlebt, wie andere Unternehmen, insbesondere Start-ups, dabei auf Irrwege geraten sind. Denn die grenzenlose Freiheit, alles zu denken und auszuprobieren, führt bei manchen dazu, dass sie den Kontakt mit dem Rest der Welt verlieren und sich in ihren eigenen Ideen verstricken. Im Vergleich dazu ist man zum Beispiel in San Francisco, wo ich einen Teil des Jahres verbringe, viel mehr darauf bedacht, die praktische Anwendbarkeit der eigenen Entwicklungen zu berücksichtigen und über den Nutzen für möglichst viele Menschen nachzudenken. Das vermisse ich hier manchmal. Wie gelingt denn dir die Balance zwischen absoluter Freiheit und Fokussierung im kreativen Schaffensprozess? Diese Frage stellt sich für uns beide vermutlich ziemlich unterschiedlich dar …

Elíasson: Da bin ich mir nicht so sicher. Zwischen Denken und Handeln liegt ein Weg, genauer gesagt ein Prozess, der vom ersten Aufgreifen eines Gedankens, einer Idee, einer Vorstellung, eines Gefühls oder auch einer rein intuitiven Empfindung bis zur konkreten Umsetzung führt. Der Kompass, der dich dabei leitet, wird in erheblichem Maße von deinem sozialen Beziehungsgeflecht oder Empfinden beeinflusst und von den Werten, die dich leiten, etwas Bestimmtes zu tun – das Verhältnis zwischen Denken und Tun wird also in jeder Hinsicht von den eigenen Wertvorstellungen gesteuert. Und besonders in Berlin haben wir eine relativ starke, robuste Beziehung zur akademischen Welt, etwa zu den Sozialwissenschaften. Du hast also eine Wissensgrundlage, dazu einen Einfall, den du umsetzen möchtest, gepaart mit dem, was ich als eine ausgeprägt humanistische Agenda bezeichnen würde. Eine solche Handlungsmaxime lässt sich, glaube ich, auf viele Bereiche anwenden.

„Wie gelingt die Balance zwischen absoluter Freiheit und Fokussierung im kreativen Schaffensprozess?“ - Alexander Ljung

Zwischen Atelier und Laboratorium: Hélène Reltgen, Egon Zehnder Paris, und Mark Krymalowski, Egon Zehnder Berlin, waren mit Alexander Ljung zu Gast in Ólafur Elíassons Studio in Berlin.

Ljung: Das stimmt! Wir haben die Diskussion über die unterschiedlichen Intentionen von Start-ups selbst auch schon geführt. Auch wenn die technologischen Möglichkeiten bei den meisten im Vordergrund stehen, lassen sich zwei Kategorien von Unternehmen unterscheiden. Die einen werden vor allem von bestimmten Zielen und Werten angetrieben, ihr Geschäftsmodell ist Mittel zum Zweck. Die andere Gruppe startet von einer ganz anderen Basis: Bei ihnen ist der ökonomische Erfolg der Antrieb, und sie überlegen sich dann, mit welchen Mitteln sie ihn erreichen können. Mein Geschäftspartner Eric Wahlforss und ich haben SoundCloud nicht einfach als Wirtschaftsunternehmen gegründet – wir wollten damit etwas erreichen, an dem uns persönlich sehr viel liegt. Aber wir stellen auch fest, wie schwierig es ist, sich mit wachsender Unternehmensgröße und zunehmendem wirtschaftlichem Erfolg auf die ursprünglichen Zielvorstellungen zu konzentrieren. Um kreativ bleiben zu können, muss man von Zeit zu Zeit einen Schritt zurücktreten und sich fragen: Wie sehen unsere Kernwerte aus? Welche übergeordneten Grundsätze müssen unsere Unternehmenstätigkeit leiten, damit wir unseren Vorstellungen auch mit einem größeren Mitarbeiterteam treu bleiben können?

Elíasson: Ich glaube, bei jedem Projekt, egal ob wirtschaftlicher oder künstlerischer Art, muss man sich im Laufe des Prozesses immer wieder Fragen über Sinn und Zweck stellen.

Ljung: Die Berliner Szene macht es einem leichter, ein sinnorientierter Entrepreneur zu sein und zu bleiben. Für viele junge Berliner Unternehmen stand die Frage „Wozu?“ vor der ökonomischen Seite. Die Szene zieht viele Leute an, die sehr kreativ und zugleich pragmatisch denken und handeln. Das hängt, denke ich, mit gewaltigen Umwälzungen bei der Entwicklung von Anwendungssoftware und insbesondere von sozial basierten Applikationen zusammen. Früher funktionierte das quasi nach dem klassischen Fließbandprinzip; heute läuft diese Entwicklung dagegen sehr iterativ, das heißt, Teile der Software funktionieren zu einem gegebenen Zeitpunkt schon sehr gut und können bereits genutzt werden, während andere komplett versagen und überarbeitet werden müssen. Das setzt ständige Anpassungsbereitschaft voraus – und Leitsätze, die diesen kontinuierlichen Veränderungsprozess zusammenhalten.

„Das Augenmerk richtet sich jetzt stark auf andere, bessere Systeme. Ich sehe die Kunst als einen Weg, hier neue Verbindungen herzustellen.“ - Ólafur Elíasson

Elíasson: Mir scheint, dass Werte in Unternehmen eine immer größere Rolle spielen. Gerade in jungen Firmen wird doch der Begriff „Erfolg“ heute viel weiter gefasst als früher. Es reicht nicht mehr aus, dass nur die Zahlen stimmen. Erfolg bemisst sich zunehmend am Umgang mit den „soft skills“. Man muss kommunizieren, warum man etwas tut. Die Begründung des eigenen Tuns ergibt sich meiner Meinung nach aus der gesellschaftlichen Interdependenz der Unternehmen und daraus, dass sie ihre Verantwortung anerkennen. Das heißt nicht unbedingt, dass man alle Vorstellungen teilen muss, sondern dass man ungeachtet unterschiedlicher Meinungen und Überzeugungen im selben Boot sitzt. Wir sind alle zugleich Teil einer Gemeinschaft, aber auch Individuum. Diese Vorstellung ist Angehörigen älterer Generationen eher fremd, weil die Welt früher viel eindeutiger in Gruppierungen, Haltungen und Meinungen aufgeteilt war. Wer einer bestimmten Gruppe angehörte, konnte nicht gleichzeitig Meinungen etwa einer gegnerischen Partei vertreten oder auch nur gutheißen. Da war sehr viel mehr Linientreue gefragt. Heutzutage gibt es in der Welt viele Räume, die man mit anderen teilen kann. Um auf die Wertgrundlage zurückzukommen: Ihre Qualität zeigt sich erst in der Umsetzung der Entscheidungen. Deine Weltanschauung kann auf noch so hehren Werten beruhen, Wirkung entfaltet sie nur dann, wenn sie in Taten mündet.

Ljung: Das Gefühl kommt bei mir oft auf, wenn ich traditionelle Firmen besuche. Schon im Korridor hängt dort ein Poster mit den Unternehmenswerten, sehr professionell und verständlich formuliert, so akkurat und präzise, dass eigentlich jedermann damit arbeiten kann. Aber irgendwann wurden diese Werte ausgehöhlt oder durch das Verhalten von Führungskräften im Geschäftsalltag konterkariert. Im Bedarfsfall können die Mitarbeiter sie zwar noch herunterbeten, aber keiner tut mehr, was er predigt. Viele Existenzgründer haben mit zwei Fragen zu kämpfen: erstens, wie man Mitarbeitern Werte so vermittelt, dass diese wirklich als Richtschnur dienen können; zweitens, wie man vermeidet, dass der Sinngehalt dieser Werte irgendwann auf der Strecke bleibt. Ich denke, das Ganze funktioniert nur, wenn die Unternehmensspitze die Werte mit Überzeugung vorlebt.

Elíasson: Und welche Rolle spielst du als CEO in diesem Prozess?

Ljung: Auf keinen Fall bin ich ein Zauberer, der immer eine Antwort parat hat, anderen sagt, wo es langgeht, und dann die Ausführung seiner Anweisungen überwacht. In unserem von ständigem Wandel geprägten jungen Unternehmen stellen sich in der Praxis viele Aufgaben, bei denen ich als CEO eine Vielzahl von Ideen sozusagen kuratorisch betreue und Mitarbeitern helfe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich sorge eigentlich nur für ein Gleichgewicht zwischen kreativem Chaos und dem erforderlichen Mindestmaß an Struktur, wobei ich darauf achte, dass wir uns selbst treu bleiben. Aber du arbeitest im Rahmen deiner Kunstprojekte doch auch mit großen Teams – wie sorgst du denn dafür, dass dein Wertesystem gelebt wird? Wie pflegst du es, wie passt du die Werte an?

Elíasson: Ein Künstleratelier ist aus meiner Sicht eine Wirklichkeitsmaschine. Das heißt, ich stelle mich der Herausforderung, eine eigene Form von Realität zu produzieren. Das tue ich im Kontext der existierenden Welt. Mit meinem künstlerischen Eingriff produziere und gestalte ich diese Welt mit. Ich sehe mich nicht als eine Art Avantgarde im Sinne einer Abkoppelung, sondern im Gegenteil in enger Verbindung mit der Realität. Das heißt, dass zwischen Atelier und Außenwelt sehr ausgeprägte Kontakte bestehen. Jedes meiner Kunstprojekte wird professionell gemanagt. Es gibt eine Vielzahl von Kontakten zum Beispiel zu Stadtverwaltungen und den Lieferanten der Rohmaterialien, mit denen ich arbeite. In diesen Kontakten spiegelt sich die Qualität der Entscheidungen, die während der Entstehung eines Kunstwerks im Atelier fallen. Im Gegensatz zu einem Wirtschaftsunternehmen ist es aber entscheidend, dass ich Entscheidungen nie aus rein ökonomischen Interessen treffe oder um den Erwartungen eines Auftraggebers oder Sammlers zu entsprechen. Natürlich komme ich manchmal nicht umhin, pragmatische Einschränkungen zu akzeptieren, etwa weil sich etwas technisch nicht realisieren lässt oder der Platz nicht ausreicht, aber meine Entscheidungen zielen darauf ab, in erster Linie das beste Ergebnis in meiner Kunst zu produzieren. Was ich in die Welt setze, darf nicht der Erfüllung eines Wunsches dienen, den die Welt bereits verspürt. Die Leute kommen zu mir auf der Suche nach einer objektiven Haltung, nach einem Kunstwerk als Ausdruck dieser Objektivität. Der tiefere Grund ist, dass sie ihre eigenen Wertvorstellungen überprüfen wollen. Zu mir kommen Leute aus allen Kreisen – nicht weil sie glauben, wir beschäftigten uns mit realitätsfernen Dingen, sondern weil wir durch gemeinsame Zielvorstellungen, Werte oder Projekte verbunden sind. Ich mache die Erfahrung, dass die Kunst in unserer Gesellschaft immer stärker aus ihrer einstigen Nebenrolle in das Zentrum rückt.

Ljung: Genau das ist der Erfolgsmaßstab, an dem auch wir uns messen: Wirkung. Ich bin fest davon überzeugt, dass SoundCloud auf sehr einzigartige Weise Emotionen weckt; es schafft Zusammengehörigkeit und verbindet. Derzeit werden jede Minute zwölf Stunden Musik und Audiomaterial hochgeladen. 90 Prozent der Titel werden auch abgespielt, die meisten am Tag ihrer Einstellung und über die Hälfte binnen einer Stunde, nachdem sie gepostet wurden.

Elíasson: Dieser Maßstab gefällt mir. Trotzdem ist es gerade in der Kunst wichtig, sich an Inhalten und nicht am Erfolg zu orientieren. Gelegentlich erlebt ein Künstler mit einem Kunstwerk einen Durchbruch und setzt dann ständig auf dieses Erfolgsrezept und dessen formelhafte Wiederholung – das Gleiche in anderen Farben, in einer anderen Größe et cetera. Vor dieser Gefahr sollte sich jeder Künstler hüten. Viel wichtiger ist, dass du eine Bewegung auslöst, Querbeziehungen schaffst oder zu einem Diskurs beiträgst. Wenn dir das gelingt, spürst du als Künstler plötzlich eine Resonanz, die andere Menschen zum Handeln bewegt – du wirst als Künstler gewissermaßen Teil eines evolutionären Prozesses, einer organischen Entwicklung.

„Ob Kritik oder Lob – worauf es ankommt, ist, dass die Leute Anteil nehmen.“ - Alexander Ljung

Ljung: Die Versuchung, Erfolgsrezepte zu wiederholen, gibt es wohl überall. Aber dies verspricht gerade in unserer heutigen technologisch geprägten Welt nur trügerische Sicherheit. Ein Entrepreneur mit einer guten Idee kann heute die Situation so radikal verändern, dass sogar führende globale Unternehmen binnen weniger Jahre vom Markt verschwinden. Deshalb ist die Industrie gezwungen, sich ständig in allen Bereichen zu erneuern. Mir verschaffen Begegnungen mit Usern, die mir erklären, wie sie SoundCloud einsetzen – vom Teenager mit seiner ersten Gitarre bis zu renommierten Musikern – ein gutes Gespür für unsere Wirkung. Ich verknüpfe Erfahrungen aus direkten Kontakten mit den Daten und Informationen von 200 Millionen Menschen, die SoundCloud nutzen, um unsere Wirkung zu verstehen. Und was die Chance anbetrifft, mit der eigenen Tätigkeit eine Bewegung auszulösen – das wäre aus unternehmerischer Sicht der Gipfel des Erfolgs!

„Heutzutage gibt es in der Welt viele Räume, die man mit anderen teilen kann.“ - Ólafur Elíasson

Elíasson: In meinen Projekten schaffe ich vor allem durch die Umformung von Natur neue Räume und ungewöhnliche Situationen, in die die Menschen ihre eigenen Erinnerungen und Erwartungen, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft einbringen. Damit will ich eine Art Doppelerfahrung vermitteln, bei der man als Betrachter zu seinen Ursprüngen zurückkehrt und gleichzeitig eine Verbindung zu seinem zukünftigen Sein aufbaut. Wenn ich mich nicht Künstler nennen würde, hielte man mich möglicherweise für einen Therapeuten. Ich möchte zeigen, dass individuelle Erfahrungen Konstrukte sind. Stimmungen, die wir beispielsweise auf der Straße, in einem Gebäude oder auch in der freien Natur empfinden, sind in viel stärkerem Maße von uns selbst geprägt, als wir denken. Aber wenn etwas konstruiert ist, kann es auch verändert werden. Wenn unser Umfeld und unsere Sinnesempfindungen zumindest weitgehend von uns selbst erzeugt werden, dann kommt man nicht um die Tatsache herum, dass man für seine persönliche Umgebung mit verantwortlich ist und sie nicht einfach konsumiert. Damit stellt mein Konzept den Begriff der Autorenschaft auf den Kopf: Der Betrachter ist in gewissem Umfang also am Werk beteiligt, Miturheber.

Ljung: Alles, was uns umgibt, ist auf die eine oder andere Art konstruiert, aber viele glauben, dass dies zum einen bewusst, zum anderen durch Dritte geschehen ist. Das ist ein absoluter Trugschluss! Jeder baut sich seine eigene Wirklichkeit. Bei Sound-Cloud ist das ganz konkret zu erleben. Wer bei uns ein User-Konto anlegt, wird automatisch Bestandteil von SoundCloud. Die Leute laden ihre Musik hoch, posten Beiträge. Jeder trägt damit wesentlich zum Aufbau dieser Plattform bei. Wir schaffen die technischen Grundlagen, aber langfristig gesehen hängt alles davon ab, wie SoundCloud genutzt wird, welche Funktionen die User erwarten oder ob sie sich vielleicht irgendwann für etwas anderes entscheiden. Dann wäre es, als hätten wir ein riesiges Haus gebaut und plötzlich stünde es leer.

Elíasson: Das ist ein interessanter Aspekt. Betrachtest du das enorme Feedback, das du erwähnt hast, als ein Privileg oder als eine Last?

„Ich sorge als CEO eigentlich nur für ein Gleichgewicht zwischen kreativem Chaos und dem erforderlichen Mindestmaß an Struktur.“ - Ólafur Elíasson

Ljung: Eindeutig ein Privileg, denn niemand wird sich die Mühe machen, dir etwas mitzuteilen, wenn ihm nicht wirklich etwas daran liegt. Ob Kritik oder Lob – worauf es ankommt, ist, dass die Leute Anteil nehmen. Das bedeutet, dass wir genug Eindruck hinterlassen haben, um eine Reaktion auszulösen. Andererseits ist es ab einer gewissen Menge an Informationen nicht immer leicht, alle Anregungen aufzugreifen und praktisch umzusetzen.

Elíasson: Ihr solltet eure engagierten User so gut wie möglich pflegen. Menschen, die sich um nichts kümmern, denen alles egal ist, sind in der heutigen Gesellschaft eine große Gefahr. Motivation ist nicht nur im Bildungswesen eine große Herausforderung – ganze Wissenschaftszweige konzentrieren sich auf empathische und inklusive Systeme. Durch Interesse und Engagement zeigt man ja auch den eigenen Standpunkt. Sich für etwas zu engagieren setzt Kritikfähigkeit voraus, man muss in der Lage sein, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln. Und in diesem Zusammenhang kann meines Erachtens auch die Kunst wichtige Anstöße geben – nicht so sehr in Bezug auf die Urteilsfähigkeit des Künstlers, die hoffentlich gegeben ist, sondern durch das Auslösen einer kritischen Reaktion beim Betrachter. Deshalb mache ich zum Beispiel in meinen Arbeiten immer wieder unser Verhältnis zur Natur zum Thema. Auch die Natur ist ein Konstrukt, das dürfen wir nicht länger ignorieren. Lange Zeit hielten wir Natur und Klima für unveränderbar, eben weil wir glaubten, die Natur entzöge sich unserem Einfluss. Hier müssen wir Plattformen finden – und dabei spielen künstlerische Ausdrucksformen eine wichtige Rolle –, die Engagement, kritisches Denken und Verantwortungsbewusstsein fördern.

Ljung: Weltweit besteht ein Missverhältnis zwischen Denken und Handeln. Die Menschheit macht sich Sorgen um den Klimawandel, und trotzdem fährt jeder, der es sich leisten kann, ein Auto. Vielleicht kann Kunst, so wie du sie betreibst, hier wirklich etwas verändern.

Die Fassade des Gesprächsorts verweist auf die industrielle Vergangenheit des Gebäudes im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.

Elíasson: Natürlich stellt sich die Frage, ob heutige Qualitätskriterien und Wertvorstellungen morgen noch relevant sein werden. Und wie wir zwischen dem Gestrigen und dem, was uns morgen erwartet, einen Übergang herstellen können. In letzter Zeit ist so viel Vertrauen geschwunden – Vertrauen in die Märkte, in das politische System, in die Demokratie ganz allgemein. Und deshalb richtet sich das Augenmerk jetzt so stark auf die Frage nach anderen, besseren Systemen. Ich sehe Kultur, und vor allem die Kunst, als einen Weg, hier neue Verbindungen herzustellen, weil sie sich auf ein eigenes Wertesystem stützt. Es gilt, Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Kulturen statt Unterschiede in den Mittelpunkt zu rücken und ein nachhaltiges – allerdings nach wie vor marktwirtschaftlich orientiertes – Wirtschaftsmodell aufzubauen, das von der Vorstellung von Gleichheit ausgeht. Es gilt, neue Formen, Inhalte, aber auch Werte zu finden, die zu einer Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts passen.

Ljung: Wir haben einen Punkt erreicht, an dem mehr Menschen als je zuvor einen eindeutigen Lebenssinn suchen. Bleibt diese Suche unerfüllt, verfallen die Menschen in Gleichgültigkeit. Ich glaube, genau darin liegt die Herausforderung für künftige Führungspersönlichkeiten: Ziel und Sinn zu formulieren.

Ólafur Elíasson,

zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Seine großformatigen Installationen, in denen nicht selten urbane Landschaften, Wasser, Sonne oder Luft als Grundmaterial dienen, werden oft als Aufruf zu einem verantwortungsbewussteren Umgang mit der Umwelt interpretiert. Elíasson wurde 1967 in Kopenhagen geboren, beide Eltern stammen ursprünglich aus Island. Von 1989 bis 1995 studierte er an der Königlich Dänischen Kunstakademie, 1994 zog er nach Berlin. Zu Elíassons bekanntesten Werken zählen The Weather Project (2003), das die Turbinenhalle der Tate Modern in London in eine künstliche Atmosphäre aus feinem, farbig beleuchtetem Nebel tauchte, sowie New York City Waterfalls (2008), für das er entlang des East River vier riesige Wasserfälle schuf. Elíasson ist für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet worden: 2006 bekam er den mit 500.000 DKK dotierten Kulturpreis des dänischen Kronprinzenpaares. Im Oktober 2013 erhielt er den renommierten Goslarer Kaiserring. Ebenfalls 2013 wurde er zusammen mit dem dänischen Architekten Henning Larsen für das Konzerthaus Harpa in Reykjavík mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur ausgezeichnet.

 

Alexander Ljung,

geboren 1981, ist Gründer von SoundCloud. Die weltweit führende Audioplattform ermöglicht den Zugriff auf die global größte Community von Musikern, Bands, Produzenten und Komponisten aller Art. Als Teenager entwickelte Ljung eine Leidenschaft für Musik und Musikproduktion. Er studierte in Stockholm Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Computer- und Schnittstellentechnologie. Während des Studiums lernte er in einem Computerraum der Universität seinen künftigen Geschäftspartner, den Künstler Eric Wahlforss, kennen. Beide erkannten bald, dass SoundCloud in der Musikwelt werden könnte, was YouTube im Videobereich ist – eine Online-Plattform zum Schaffen, Anhören, Herunterladen und Diskutieren. 2007 zog Ljung nach Berlin, ein Jahr später gründete er zusammen mit Eric Wahlforss als CTO offiziell das Unternehmen SoundCloud. Als CEO ist Ljung für die Unternehmensstrategie und für ein Team von über 200 Mitarbeitern verantwortlich. Das Magazin Fast Company prämierte SoundCloud als eine der „Most Innovative Companies 2012“ und begründete seine Wahl unter anderem damit, das Start-up habe dem Internet eine Stimme verliehen. Das junge Unternehmen gewann den Europioneer Award der Europäischen Kommission und erhielt die Auszeichnung Best International Startup.

 

FOTOS: ROBERT FISCHER

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