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Interview mit DIHK-Chef Ludwig Georg Braun

"Bildung strahlt aus."

  • Januar 2017

Mit seinem Ausbildungspakt prägte DIHK-Chef Ludwig Georg Braun die deutsche Wirtschaft. Nur folgerichtig für einen Mann, der an die Kraft von Kultur, Persönlichkeit und Überzeugungen glaubt – im Unternehmen wie in der Gesellschaft.

SHARING EXPERTISE – keiner der Slogans des Medizintechnik-Konzerns B. Braun Melsungen passt besser auf den Chef Ludwig Georg Braun. Als Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages liebt er es, öffentlich Stellung zu beziehen und oftmals unpopuläre Einsichten mitzuteilen. Die Erfahrungen, die der Unternehmer in Jahrzehnten der Expansion gewann, bewogen den Verbandspolitiker schon 2001, seine Präsidentschaft unter das Thema Bildung zu stellen. Ein Thema, das seither noch an Relevanz gewonnen hat.

Focus: Herr Braun, warum ist Bildung so wichtig?

Ludwig Georg Braun: Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Ohne Bildung kann man sich heute im Wirtschaftsleben eigentlich nicht mehr in ein Abenteuer wagen. Wahrscheinlich konnte man das noch nie: In meiner Familie war Bildung über die Generationen hinweg der Schlüssel zum Erfolg – immer wieder. Wer das einmal begriffen hat, gewinnt den Drive, sich immer weiter um Bildung zu bemühen. Ohne diesen Drive geht es nicht. Man kann auf Schulen, auf Universitäten gewesen sein – wenn man nicht verinnerlicht hat, dass man sich konstant weiter um Bildung bemühen muss, dann bleibt das alles fruchtlos.

Focus: Wie kommt man zu diesem Drive?

Braun: Wenn man Glück hat, bekommt man den schon von den Eltern mit. Wenn das Elternhaus die Bedeutung von Bildung, von Kultur begriffen hat, bedeutet das für einen jungen Menschen einen ungemeinen Vorsprung – auch wenn er das als Jugendlicher vielleicht noch nicht so sieht. Ein 16-Jähriger, der in den Sommerferien arbeiten soll, oder dem man sagt, dass er sich um ein Stipendium für eine Schule im Ausland bewerben soll – der sieht wahrscheinlich zunächst einmal nur die Einbußen. Aber auch wer nicht von Haus aus begünstigt ist, kann diesen Drive später noch bekommen. Wer beispielsweise ein Unternehmen gründet, wird bald merken, dass er immer wieder dazulernen muss. Irgendwann kann er auch nicht mehr alles selber machen. Er muss vielleicht ganze Aufgabenfelder – ich denke etwa an Forschung und Entwicklung – delegieren. Diese geistige Beweglichkeit kann für seinen Erfolg entscheidend sein.

„Wer ein Unternehmen führt, muss in erster Linie ein guter Generalist sein.“

Focus: Wenn Sie von Bildung für Führungspersönlichkeiten sprechen, denken Sie also nicht an bestimmte Inhalte?

Braun: Wer ein Unternehmen führt, muss in erster Linie ein guter Generalist sein. Das Fachwissen kann er sich dann immer noch heranziehen. Seine Bildung besteht in der Hauptsache darin zu erkennen, an welcher Stelle er das Fachwissen braucht. Da ist er wie ein Dirigent, der das ganze Orchester zum Klingen bringt. Er muss nicht jedes einzelne Instrument spielen können. Aber er muss hören, wenn eine Stimme fehlt.

Focus: Die Anregungen Ihrer Eltern scheinen in Ihrem Falle auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Sie haben im Ausland studiert und gearbeitet, haben vielfältige Interessen ausgebildet. Die Frage ist: Macht sich das im Unternehmen irgendwo bemerkbar?

Braun: Ich glaube, so etwas strahlt aus. Sicherlich gibt es den hochqualifizierten Unternehmer, dessen Interessen sich nur auf das eigene Unternehmen richten. Aber es gibt auch den, der in seinem Unternehmen eine gewisse Kultur leben möchte. Das beginnt im Umgang mit den Mitarbeitern, setzt sich fort im Umgang mit den Lieferanten und den Kunden und reicht auch in die Politik und die allgemeine Gesellschaft, in der man eingebettet ist.

Focus: Und diese Unternehmenskultur überträgt sich auf andere?

Braun: Die teilt sich im täglichen Umgang auch anderen mit. Der Zeitfaktor spielt hier natürlich eine große Rolle. Insofern kann der Spitzenmanager eines Familienunternehmens hier vielleicht stärker prägen als der in einer anderen Gesellschaft – ganz einfach, weil er deutlich länger im Unternehmen wirkt. Aber auch Hermann Joseph Abs wirkte mit seinem Stil stark auf die Beschäftigten der Deutschen Bank. Man schrieb den Erfolg der Bank seiner Persönlichkeit zu und übernahm dann seine Wertevorstellungen. Wenn es Werte sind, die übernommen werden, ist man ja immer froh.

Focus: Was genau färbt da ab?

Braun: So etwas wie Korrektheit. Damit meine ich die Sitten des Umgangs, die Achtung füreinander. Ich kann jetzt nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass alle Mitarbeiter unseres Unternehmens von Schwächen frei sind. Aber ich glaube, dass sich im Laufe der Zeit ein Gesamtverständnis ausbildet. Man weiß, man kann ruhig und konstruktiv miteinander reden. Das gehört dann einfach dazu und macht die Kultur dieses Unternehmens aus.

Focus: Sie tragen Ihr Engagement nun aus dem Unternehmen hinaus, etwa in die Verbandspolitik. Warum?

Braun: Man ruft ja immer nach dem aktiven Unternehmer. Er soll Impulse setzen für Neuerungen, für die technische Umsetzung innerhalb einer Organisation oder aber bei Themen, die für die Wirtschaft insgesamt relevant werden. Ob das nun Steuerreformen oder Umweltfragen sind, Probleme der Logistik oder des Verkehrs – der Unternehmer trägt in solche Diskussionen ein großes Maß an Praxis hinein, weil er die Konsequenzen aus seinem Alltag besser abschätzen kann als andere.

Focus: Muss er nicht aber schon einen gewissen Altruismus mitbringen, um überhaupt seine Zeit in solche Tätigkeiten zu investieren?

Braun: Die Hauptaufgabe darf er natürlich nicht aus dem Auge verlieren: sein Unternehmen erfolgreich zu führen. Aber wenn er seinen Standpunkt gut vermitteln kann – und dabei hilft ihm wiederum sein Bildungshintergrund, der Blick für das Ganze –, dann kostet ihn die gesellschaftliche Arbeit gar nicht soviel Zeit. Er muss nicht vom Staatssekretär bis zum Referenten alle Beteiligten einzeln aufsuchen; durch einen überzeugenden Vortrag kommt er viel schneller ans Ziel und hat damit auch noch Freiraum gewonnen. Das Gleiche empfehle ich übrigens auch der Politik.

Focus: In der Sie sich ebenfalls engagiert haben.

Braun: Ja, ich war Vorsitzender im Sanierungsausschuss im Stadtrat von Melsungen und habe mitgeholfen, Fachwerkhäuser aus dem 17. Jahrhundert zu erhalten. Man wollte damals die Innenstadt attraktiver machen und den Verkehr um Melsungen herumlenken. Um Platz für die Straße zu finden, hätten dann die etwas schlechter erhaltenen Fachwerkhäuser abgerissen werden müssen. Das konnten wir glücklicherweise verhindern.

Focus: Ihre Firmenzentrale in Melsungen wurde von den britischen Architekten James Stirling und Michael Wilford entworfen und ist ein bemerkenswertes Beispiel moderner Architektur. Wie muss man sich Ihre Motivation als Bauherr vorstellen – als einen Versuch, Ihren Kunstgeschmack zu verbreiten?

Braun: Nein, der Kernpunkt war einfach die Erkenntnis, dass Melsungen das Glück hatte, im Dreißigjährigen Krieg nicht zerstört worden zu sein. So ist diese Fachwerkstadt weitgehend in dem Zustand erhalten, wie sie im 17. Jahrhundert aufgebaut worden ist. Der Stolz, den die Bürger damals in den Hausbau steckten, ist heute noch sichtbar. Man kann dann neben solche Häuser nicht einfach irgendwelche Zweckbauten stellen, die nur einen Regenschutz darstellen, sondern muss mit der gleichen Verantwortlichkeit und Sorgfalt bauen.

Focus: Das genügt für die Bereitschaft, die Mehrkosten zu tragen?

Braun: Das ist ein Irrtum! Es heißt zwar immer, qualitätvolles Bauen sei teurer. Aber wenn man sich wirklich darum kümmert, sind die Mehrkosten minimal. Das haben wir bewiesen.

Focus: Welche Rolle spielen die Eigentumsverhältnisse für die Unternehmenskultur? Anders gefragt: Könnten Sie ebenso handeln, wenn Ihr Unternehmen an der Börse gehandelt würde?

Braun: Das hängt entscheidend von der Führungspersönlichkeit ab. Bis in die achtziger Jahre konnten sie meine Denkweise sehr häufig auch bei Vorstandsvorsitzenden finden.

Focus: Also die Führungspersönlichkeiten haben sich verändert?

Braun: Ich glaube, dass die Verantwortlichen an der Spitze börsennotierter Unternehmen auch heute noch in vielen Fällen ähnlich empfinden wie ich. Und sicherlich bringen sie die gleiche Bildungsstruktur mit – wenn nicht noch eine viel bessere. Die Frage ist allerdings, ob sie es sich leisten dürfen, ihren Einsichten zu folgen. Gerade darin liegt das große Glück von Familienunternehmen: Wir können in solchen Fällen ganz anders denken.

Focus: Weil Bildung im Wirtschaftsleben Luxus ist?

Braun: Weil die Vorstände börsennotierter Unternehmen gedrängt werden, in Quartalen zu denken. Wenn die Analysten vom Schlussquartal einen Rekordumsatz erwarten und der Umsatz bleibt hinter diesen Erwartungen zurück – dann fragt nicht nur keiner, ob diese Erwartungen überhaupt berechtigt waren. Sondern auch der Erfolg der drei vorangegangenen Quartale zählt dann nicht mehr, weil alles schon im Kurs vorweggenommen ist. Das ist das Problem. Diese konstante Analyse hat ein Stück Kultur verloren gehen lassen. Dem Einzelnen wird kaum mehr Zeit gelassen, sich in Ruhe zu entwickeln. Damit wird auch die Verantwortlichkeit als Bürger der Gesellschaft zurückgedrängt.

Focus: Ist da etwas fehl gelaufen im Bereich Bildung – nicht nur in der staatlichen Bildung, sondern auch in der Prägung durch die Unternehmen?

Braun: Das kann man nicht den Managern anlasten. Man darf die Rolle der Investmentfonds nicht übersehen. In meiner Jugend, als ich in Amerika lebte, haben die Pensionsfonds zwar auch schon kräftig investiert; aber damals haben sie Stimmrechte nicht ausgeübt. Heute tun sie das. Nicht in dem Sinne, dass sie sich ins operative Geschäft einmischen. Sie tun es einfach durch ihre Investitionsentscheidungen. Und da viele dieser Mittel aus Übersee kommen, fühlen sie sich dem alten Kontinent nicht in Verantwortung verbunden.

Focus: Was kann man dagegen tun?

Braun: An der Grundentwicklung wird sich nichts ändern. Die einzige Chance der Unternehmen würde darin bestehen, das Aktienkapital zurückzukaufen. Sie müssten ein solches Volumen haben, dass sie sagen können, wir sperren uns. Erst wenn sie damit kein Übernahmekandidat mehr sind, können sie sich auf ihren Kurs konzentrieren und sagen, wir wachsen lieber langsam. Das ist aber sehr schwer durchzuhalten. Immer den Nachweis zu erbringen, dass die Rendite langsamen Wachstums nachhaltig besser ist – ich glaube kaum, dass das machbar ist. Das macht es für Familienunternehmen praktisch unmöglich, sich auch nur in Teilen zu öffnen.

Focus: Aber selbst börsennotierte Unternehmen beginnen, sich an Werten wie Nachhaltigkeit oder Corporate Social Responsibility zu orientieren. Ist das nicht ein gutes Zeichen?

Braun: Ich glaube, das sind Schlagworte, die eher in der Außenwirkung Bedeutung haben. Das heißt nicht, dass man sie vernachlässigen darf. Was dann passiert, haben wir gesehen, als Shell vor einigen Jahren eine Bohrinsel versenken wollte: Die öffentliche Meinung war dagegen und forderte, sie müsse abgebaut werden. Das war zwar Unsinn, aber das Wissen, dass das Unsinn war, war im Kopf des Durchschnittsbürgers noch nicht angekommen. Insofern kann die Verpflichtung auf Nachhaltigkeit solche Bildungslücken schließen; ein Unternehmen kann sich damit den Rücken freihalten. Aber Freiheitsgrade für eigenes Handeln schafft es sich damit noch nicht.

Focus: Wie können Sie sicher sein, dass das Denken und Planen in kurzen Zeiträumen nicht auch in Ihrer Familie Fuß fasst?

Braun: Ob die nächste Generation meinen Kurs fortsetzen wird, kann ich natürlich nicht voraussehen. Vielleicht wird eines Tages ein Familienmitglied sagen: Wir zahlen unsere Steuern, so wie es das Gesetz vorschreibt, und damit haben wir unsere Schuldigkeit getan – jetzt konzentrieren wir uns nur noch aufs Geldverdienen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass so jemand einmal kommt, aber ausschließen kann ich es nicht. Aber auf jeden Fall wird es keinen abrupten Kurswechsel geben, wenn ich einmal nicht mehr da bin.

Focus: Sie müssen also nachhaltig klarmachen, was ein Manager davon hat, wenn er sich für Bildung, für gesellschaftliche Verantwortung einsetzt. Was sagen Sie da?

Braun: Monetär mag es ja befriedigend sein, fachlich auf Schmalspur zu fahren. Aber man hat einfach mehr davon, wenn man sich in die Gesellschaft einbringt. Zum einen erfährt man Anerkennung durch andere, und zwar auf einem Gebiet, das mit dem Unternehmen gar nichts zu tun hat; das gibt schon mal ein Gefühl des Geborgenseins. Und zum anderen lernt man Vertrauen. Heute ist es ja leider oft so, dass viele Manager zu wenig Vertrauen in ihre Mitarbeiter setzen und meinen, sie dürften nie die Kontrolle verlieren. Irgendwo will man alles oben entscheiden, anstatt den Mitarbeitern zu vertrauen.

Focus: So würde gesellschaftliches Engagement am Ende zu einer Arbeitsersparnis führen?

Braun: Unbedingt. Schon weil es den Horizont erweitert, wenn man sich – sagen wir in einem Ehrenamt – mit gesellschaftlichen Aufgaben auseinandersetzen muss. Das kann enorm befruchtend wirken. Es hilft, ein Verständnis für die Anliegen unterschiedlichster Interessengruppen zu entwickeln. Man gelangt zu neuen Sichtweisen, und das kann einem helfen, seine Aufgaben als Unternehmer besser zu lösen.

„Ohne Bildung kann man sich heute im Wirtschaftsleben eigentlich nicht mehr in ein Abenteuer wagen.“

Focus: Gesellschaftliches Engagement hat also auch einen wirtschaftlichen Nutzen?

Braun: Das müssen keine Gegensätze sein. Ich glaube an das, was Adam Smith als die unsichtbare Hand bezeichnet. Denken Sie an das Wirken der Familie Krupp: Die bauten für ihre Arbeiter Siedlungen und Krankenhäuser – nicht aus Selbstzweck, sondern weil sie gesunde Arbeiter haben wollten.
Wenn wir uns in unserem Unternehmen perspektivisch auf ein weiteres Wachstum einrichten, dann ist klar, dass wir mehr Fachleute brauchen und dass wir zusätzlich ausbilden müssen. Heute ist die Marktsituation nicht so, aber ich weiß, dass wir auf einen personellen Engpass zusteuern. Aus diesem Grund bilde ich eben jetzt schon Mechatroniker aus. Nicht weil ich Arbeitsplätze schaffen will, sondern weil ich die demographische Entwicklung sehe.

Focus: Überschaubare Verhältnisse lösen sich in der globalisierten Welt zunehmend auf. Lässt sich Unternehmenskultur in einem Unternehmen, das so groß ist wie das Ihre, überhaupt noch nachvollziehen?

Braun: Doch. Sie können so eine Unternehmenskultur auch leben, wenn Sie international aufgestellt sind. Wir haben zum Beispiel ein Programm namens „B. Braun for Children“. Wir ermutigen unsere Tochterunternehmungen, sich in ihrem Gastgeberland zu engagieren und Kindern zu helfen. Wie sie das machen, entscheiden sie selber. Diese Eigenverantwortlichkeit bindet die Mitarbeiter stärker mit ein. Wohlgemerkt: Als Unternehmen bleibt es natürlich unser Ziel, mit unseren Produkten erfolgreich zu sein und bestimmte Marktanteile zu erreichen. Das ist die primäre Aufgabe. Aber parallel dazu gibt es immer Raum, Verantwortung als Bürger der Gesellschaft wahrzunehmen. Egal, in welchem Land.

Focus: Verbinden Sie mit so einem Programm auch die Vorstellung, Ihre Mitarbeiter zu verändern?

Braun: Ja, durchaus. Die Beteiligten mögen das zunächst zwar als reines Samaritertum verstehen. Aber wenn sie jemanden jahrelang durch die Schule begleitet haben, dann stellt sich bei seinem Abschluss von selbst die Frage: Was machen wir jetzt mit ihm? Könnte er nicht hier im Betrieb mithelfen? Und spätestens dann entsteht ein Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit, für die Verantwortung, die wir für den Nächsten tragen. Noch einmal: Nicht in dem Maße, dass Entwicklungsarbeit nun der Hauptfokus unserer Aktivität würde, aber doch so, dass wir diese Aufgabe wahrnehmen – unabhängig von der Verantwortung, die jeder Mitarbeiter in Indien, China oder wo auch immer für seine eigene Familie ohnehin hat.

Focus: Wenn Sie sich so in der deutschen Unternehmens- und Unternehmerlandschaft umsehen, was fällt Ihnen da positiv auf – und wo sehen Sie Defizite?

Braun: Eine schwierige Frage. Ich will sie einmal so beantworten: Die deutschen Unternehmen haben vor einigen Jahren bemerkt, dass sie zuviel personalen Speck angesetzt hatten. Ich fand es unfair, wie sie für diese Einsicht von allen Seiten kritisiert wurden. Doch die Unternehmen haben diese Aufgabe gemeistert. Auch die Gewerkschaften haben die Notwendigkeit dieser Maßnahmen erkannt. Sie haben volkswirtschaftlich verantwortlich gehandelt, ohne die Interessenlage ihrer Mitglieder aufzugeben. Das halte ich schon ein Stück weit für Kultur auf dem Sektor der Arbeitsbeziehungen.

Focus: Aber wenn man sieht, wie technikfeindlich Deutschland geworden ist – was ist da falschgelaufen?

Braun: Das beginnt sich zu ändern. Wir haben ohne Zweifel eine ganz schlechte Phase gehabt. Der Glaube der Grünen, man müsse die Natur sich selbst überlassen, dann werde alles gut – das waren 20 schwierige Jahre. Das werden wir auch noch eine Weile ausbaden müssen. Aber die ersten Grünen werden auch alt und gehen allmählich in Rente. Und die Jungen haben sich schon umgestellt.

„In meiner Familie war Bildung über die Generationen hinweg der Schlüssel zum Erfolg – immer wieder.“

Focus: In zehn Jahren schlagen Sie die Zeitung auf. Was möchten Sie da über Deutschland lesen?

Braun: Da würde ich gern lesen, dass Europa auf dem Sektor der Bildung stärker zusammengewachsen ist. Dass die Universitäten sich verbunden haben und den Akademiker ausbilden, der nach dem Abschluss seines Studiums überall in Europa seinen Platz finden kann. Und der auch den Mut hat, dorthin zu gehen, weil er herzlich willkommen ist. Dann möchte ich lesen, dass die europäischen Forschungseinrichtungen in einer Weise zusammenarbeiten, dass Europa wieder ein Forschungsschwerpunkt in der Welt geworden ist, der mit den Vereinigten Staaten, mit China und Indien mithalten kann. Und dann würde ich gern lesen, dass wir unsere demographische Situation in Europa haben umkehren können. Dazu gehört, dass wir die Potenziale mobilisieren, die in unserem Land stecken, und den Schulschwachen besondere Aufmerksamkeit widmen, dass sie einen halbwegs vernünftigen Abschluss finden. Und dass viele, die hier den Schulabschluss schaffen, so befähigt werden, dass sie auch noch an eine Universität gehen können.

Focus: Sie scheinen ein sehr gründlicher Zeitungsleser zu sein …

Braun: Und ich bin noch gar nicht fertig! Ich möchte auch lesen, dass wir endlich eine kluge Einwanderungspolitik für Europa entwickelt haben. Wir brauchen Perspektiven für Menschen mit einer Ausbildung aus den Ländern mit den höchsten Geburtenraten. Entweder indem wir den Handel mit ihnen intensivieren und ihnen eine Perspektive bieten, ihren Unterhalt in ihrer Heimat zu verdienen. Oder indem wir ihnen erleichtern, zu uns zu kommen und hier zu arbeiten. Wir Europäer sollten uns auch unter diesem Aspekt der Zuwanderung an unsere langen Verbindungen nach Lateinamerika erinnern. Das gilt nicht nur für Länder wie Spanien, Portugal oder Italien. Auch aus Deutschland sind viele Menschen nach Südamerika ausgewandert. Es würde sich geradezu anbieten, die historische Bindung zu diesen Gemeinschaften neu zu beleben.

Focus: Was müssen die Unternehmen in Deutschland tun, um dahin zu kommen?

Braun: Zunächst einmal müssen sie die nächsten zehn Jahre überleben. Dazu müssen wir an erster Stelle mehr Investitionen in die Produktivitätsverbesserung stecken. Wir müssen mehr arbeiten und mehr investieren. Ohne das geht es nicht. Mein Eindruck ist: Der Faktor Arbeit stimmt dem zu, der Faktor Kapital stimmt dem zu, aber der Faktor Staat hat es noch nicht begriffen. Wenn er den Unternehmen sagt, wenn du dich hier verschuldest, darfst du die Zinsen nicht mehr abziehen, wenn sie über eine bestimmte Relation hinausgehen, dann ist das kontraproduktiv.

Focus: Dazu gehört aber auch ein Personen- und Führungstypus, der diese Aufgaben meistern kann. Wie kann man den heute im Unternehmen schon erziehen?

Braun: Das kann man gar nicht. Der Führungstypus, den wir brauchen werden, der bildet sich von ganz allein heran. Es hat keinen Sinn, so weit vorauszuplanen. Auch im Familienunternehmen kann man nicht einfach den Ältesten zum Nachfolger bestimmen. Nein, wenn es so weit ist, muss man den Geeignetsten nehmen. Und je mehr Kinder man hat, desto leichter findet man den Richtigen.

Focus: Herr Professor Braun, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview mit Ludwig Georg Braun führten Friedrich Kuhn, Egon Zehnder, München (l.), und Bernd J. Wieczorek, Egon Zehnder, Berlin.

ZUR PERSON Ludwig Georg Braun

Marathonläufer, Kunstmäzen, Unternehmer – Prof. Dr. h.c. Ludwig Georg Braun, 63, hat viele Seiten. Seit einigen Jahren ist der Chef des Medizintechnik-Konzerns B. Braun Melsungen AG zudem als Verbandspolitiker weithin sichtbar: 2001 wählte ihn der Deutsche Industrie- und Handelskammertag zu seinem Präsidenten.

Nach einer Lehre als Bankkaufmann studierte Braun in England und den USA Betriebswirtschaft und übernahm als 25-Jähriger die Leitung der Laboratorios Americanos S. A. Niteroi in Brasilien. 1972 kehrte er nach Europa zurück und trat in den Vorstand des Familienunternehmens ein. Unter seiner Leitung (ab 1977) setzte B. Braun Melsungen die in den zwanziger Jahren begonnene Internationalisierung energisch fort und entwickelte sich zum Weltmarktführer im Bereich Medizintechnik.

Der Vater von fünf Kindern ist praktizierender Christ und seit 1986 Synodaler der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Für die FDP gehört Ludwig Georg Braun seit 20 Jahren der Melsunger Stadtverordnetenversammlung an und war dort Vorsitzender seiner Fraktion.

B. Braun Melsungen AG Im Dienste der Gesundheit

Die B. Braun Melsungen AG gehört zu den weltweit führenden Gesundheitsversorgern. Ihre Tätigkeit gliedert sich in vier Sparten: Angebote für Kliniken, für Chirurgen, für niedergelassene Ärzte und den Pflegebereich sowie die Medizintechnik mit dem Kerngeschäft der extrakorporalen Blutbehandlung. Mit 32.626 Mitarbeitern erzielte das Unternehmen im Jahre 2006 einen Umsatz von 3.321,4 Millionen Euro. Zum B. Braun-Konzern gehören heute mehr als 191 Tochtergesellschaften in über 50 Ländern. Ein weiter Weg also von der Melsunger Rosen-Apotheke. Mit ihrem Kauf durch Julius Wilhelm Braun im Jahre 1839 begann die Unternehmensgeschichte. Der Übergang vom Kräuter-Versandhandel zum Industriebetrieb vollzog sich erst 1908 mit der Fertigung von Katgut, einem Nahtmaterial für Chirurgen, das vom Körper vollständig aufgenommen wird. Zahlreiche Innovationen und Erfindungen ließen das Unternehmen weiter wachsen. 1962 stellte das Unternehmen die „Braunüle“ vor, die erste einteilige Kunststoffkanüle. Ihr Name entwickelte sich schnell zum Synonym für die gesamte Produktgattung. B. Braun macht inzwischen drei Viertel seines Umsatzes außerhalb Deutschlands. Doch in zweifacher Hinsicht ist das Unternehmen sehr beständig geblieben. Sein Hauptsitz liegt wie zu Zeiten der Rosen-Apotheke noch immer im nordhessischen Melsungen, rund 20 Kilometer südlich von Kassel. Und auch die Eigentumsverhältnisse haben sich nicht wesentlich geändert: Die Aktiengesellschaft ist nicht an der Börse notiert und befindet sich in der fünften Generation im Familienbesitz.

FOTOS: RÜDIGER NEHMZOW

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