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Kontinentalverschiebungen

Paradigmen­wechsel im globalen Wettbewerb um Talente

  • Januar 2017

Die Verschiebung der wirtschaftlichen Kraftfelder von West nach Ost, deren Zeugen wir gerade werden, verlangt neue Strategien für das Finden und Binden von talentierten Führungskräften. Kaum eine Führungsdisziplin aber ist in der jüngeren Vergangenheit so vernachlässigt worden – von wenigen Best-practice-Beispielen abgesehen. Doch Claudio Fernández-Aráoz, Bestseller-Autor und erfahrener Personalberater, ist davon überzeugt, dass wir nun am Beginn einer neuen Ära in der Praxis von Besetzungsentscheidungen stehen.

Unter einer ganzen Reihe von Faktoren, die den Wettbewerb um Talente beeinflussen, ist die Globalisierung zweifelsohne der bedeutendste. Wir alle sind uns der dramatischen Kräfteverschiebung der Wirtschaft in Richtung Schwellenländer bewusst. Überall auf der Welt haben Top-Manager erkannt, dass die sogenannten BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China) mit ihren fast zwei Milliarden Einwohnern heute nicht nur einen rasant wachsenden Markt darstellen, sondern auch eine reich sprudelnde Quelle für immer besser ausgebildete und dabei relativ preisgünstige Mitarbeiter sowie ehrgeizige Köpfe bilden. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wollen deshalb nahezu alle internationalen Unternehmen, die wir untersucht haben, den Anteil jener Talente, die nicht im ursprünglichen Heimatland des Unternehmens angeworben werden, in den nächsten fünf Jahren deutlich aufzustocken.

Wachsende Nachfrage nach Hoffnungsträgern

Diesen Unternehmen ist allerdings nur zu bewusst, dass es keine leichte Aufgabe sein wird, die Chancen zu nutzen und gleichzeitig die damit einhergehenden Risiken zu beherrschen. Noch gestaltet sich die Suche nach qualifizierten Führungskräften in den neuen Märkten als schwierig. In China etwa gab es bis Mitte der neunziger Jahre keine Business Schools. Der wachsenden Nachfrage nach Hoffnungsträgern steht dort aktuell ein sehr begrenztes Kontingent an Kandidaten gegenüber, das sich zusammensetzt aus westlichen und asiatischen Expatriates, chinesischen Rückkehrern aus dem Ausland sowie heimischen Kräften. Eine ähnliche Problematik besteht auch in Indien, Brasilien und Russland, wo der Talent-Pool bei weitem nicht ausreicht, um die Herausforderungen einer explosionsartig steigenden Nachfrage und der schwindelerregenden Wachstumsraten zu befriedigen.

Erschwerend kommt hinzu, dass es selbst in Regionen, in denen früher das Paradigma der lebenslangen Mitarbeiterbindung galt, immer schwieriger wird, erstklassige Kräfte langfristig an ein Unternehmen zu binden. Von der einstigen Tradition der Mitarbeiterloyalität ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Die Verweildauer extern angeworbener Kandidaten in Asien ist schon heute niedriger als in den Vereinigten Staaten und Europa.

Mangel an Konsequenz und Professionalität

Leider ziehen viele Unternehmen unbewaffnet in den globalen Kampf um die Besten. Noch immer fehlen in vielen Organisationen bindende Richtlinien für Besetzungsentscheidungen. Aus Gesprächen mit den Top-Managern hunderter internationaler Unternehmen weiß ich, dass dort Finanzentscheidungen mit wesentlich mehr Konsequenz, Professionalität und Expertise getroffen werden als Personalentscheidungen. In den meisten Fällen, so die übereinstimmende Meinung der Unternehmenslenker, mangelt es Personalentscheidungen in allen Phasen des Prozesses an Stringenz. Es beginnt damit, dass in der Unternehmensspitze oft Uneinigkeit darüber besteht, ob eine wichtige Position überhaupt anders besetzt werden sollte, und setzt sich fort über die Integration und langfristige Bindung eines Wunschkandidaten. Das trifft sowohl bei internen Beförderungen als auch für extern angeworbene Talente zu.

Solche mangelhaften Prozesse sind selbst in den renommiertesten Unternehmen zu finden. Im vergangenen Jahr glaubten in einer Umfrage von Egon Zehnder unter Top-Managern aus den USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich nur die Hälfte der Befragten, dass in ihren Unternehmen die High Performers und High Potentials sicher und effizient identifiziert werden. Dass unter solchen Bedingungen wohl kaum Talente in den noch weitgehend unbekannten neuen Märkten und komplexen Kulturen erfolgreich angeworben werden dürften, liegt auf der Hand.

Natürlich gibt es Ausnahmen – vorbildliche Unternehmen, die nachweislich Erfolgswege im Kampf um Talente gefunden haben, indem sie Ausnahmetalente schon am unteren Ende der Pyramide ins Unternehmen holen und sie von da an systematisch fördern und entwickeln. Das vielleicht überzeugendste Beispiel hierfür ist General Electric. Bei GE hat Talent Management seit mehr als einem Jahrhundert höchste Priorität. Aus der GE-Schmiede stammt nach Harvard die zweitgrößte Gruppe von Führungskräften der größten US-Firmen. Unternehmen wie GE sind allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Zwar haben die meisten Unternehmen inzwischen formal ähnliche Prozesse eingeführt, doch setzt das Gros diese bei weitem nicht konsequent genug um. Zudem reicht die Führungskräfteentwicklung allein nicht aus, um die Chancen und Herausforderungen des globalen Wettbewerbs zu meistern. Diese erfordern überdurchschnittliche Kompetenz und Effektivität bei der Rekrutierung – nicht zuletzt deshalb, weil die Entwicklung von Führungskräften Zeit braucht, die Entwicklung in den aufstrebenden Märkten aber in rasantem Tempo voranschreitet. Selbst Unternehmen mit erstklassigen Besetzungspraktiken können den wachsenden Bedarf an Führungskräften in den neuen Märkten kaum mit Managern aus der Heimat der Unternehmen decken, zumal die demographische Entwicklung dort oft genau in die entgegengesetzte Richtung verläuft.

Vorbilder dringend gesucht

Die Erkenntnis, dass vor allem die Rekrutierung erstklassiger Führungskräfte oberste Priorität haben muss, wenn Unternehmen im neuen globalen Umfeld erfolgreich bestehen wollen, genügt leider nicht. Die Praxis ist, wie bereits beschrieben, weit vom Idealzustand entfernt, und bislang existiert auf diesem Gebiet auch kein Best-practice-Modell. Im Gegensatz zur Entwicklung von Führungskräften, wofür es solche Vorbilder – siehe GE – gibt und diese von den meisten Unternehmen zumindest in der Theorie auch adaptiert wurden, haben wir festgestellt, dass viele CEOs zwar persönlich bei der Rekrutierung von Top-Managern mitwirken, dabei aber ganz unterschiedlich und nicht sehr systematisch vorgehen.

Das gilt für die Anzahl der bei der Suche zu berücksichtigenden Kandidaten, den Beurteilungsprozess selbst (einschließlich der Anzahl und Art der Beteiligten während der Bewertung der Kandidaten und schließlich an der Entscheidung), die Präferenz für interne oder – gerade umgekehrt – für externe Kandidaten, die Unterstützung in der Einarbeitungsphase sowie die Rolle der Personalabteilung und den Einsatz externer Berater. Aus unseren Untersuchungen wissen wir, dass diese individualistischen Ansätze nicht einer speziellen Situation angepasst sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis persönlicher Vorlieben und Traditionen, die weder wissenschaftlich fundiert sind noch auf Best Practices basieren.

Innovationen entstehen immer dann, wenn Probleme endlich dringlich genug geworden sind. Deshalb werden die Anforderungen des neuen globalen Umfelds die Entwicklung einer neuen Generation von Best Practices auf dem Gebiet der Besetzungsentscheidungen nachhaltig fördern. Die Zeit drängt. Bereits heute sind aktuellen Schätzungen zufolge 70 Prozent des Wertes eines typischen S&P-500-Unternehmens in immateriellen Werten wie etwa dem Mitarbeiterpotenzial gebunden.

Gibt es also Hinweise darauf, dass sich in dieser Hinsicht auch in den Köpfen der Verantwortlichen etwas tut? Die Antwort lautet ganz klar ja. In den führenden Business Schools steht das Thema Personalentscheidungen inzwischen auf dem Lehrplan. Die Kaderschmieden für die nächste Managergeneration haben erkannt, dass sie nicht die Führungskräfte von morgen hervorbringen können, wenn sie den Studenten von heute nicht vermitteln, wie sie ihre Gefolgsleute auswählen sollen. In gleicher Weise haben auch viele multinationale Unternehmen begonnen, ihre Senior Leaders entsprechend zu schulen, so dass Entscheidungen nicht mehr aus dem Bauch, sondern auf Basis empirisch gut gestützter Aussagen und Best Practices getroffen werden. Dieser Veränderungsprozess läuft übrigens nicht nur in der Welt der Wirtschaft ab, sondern durchdringt inzwischen auch andere Organisationen, vom öffentlichen Dienst in hoch industrialisierten Ländern bis hin zur kommunistischen Partei in China.

Angesichts der Größe der beteiligten Märkte und Unternehmen und der eklatanten Leistungsunterschiede zwischen einem Top-Manager und einer eher durchschnittlichen Führungskraft bei komplexen Aufgaben wird diese neue Haltung und der Einfluss von Best Practices im globalen Wettbewerb um Managementtalent die Produktivität und die Schaffung von Wohlstand spürbar verändern. Denn erstklassige Besetzungsentscheidungen sind der Schlüssel zu einer erfolgreichen Zukunft. Oder, um es mit Peter Drucker, dem Grandseigneur unter den Management-Gurus zu sagen: „Die beste Art die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu schaffen.“

AUTOR

Claudio Fernández-Aráoz ist seit 1986 Berater bei Egon Zehnder in Buenos Aires. Von 1998 bis 2008 gehörte er dem Executive Committee der Firma an. Sein Buch „Great People Decisions“, das 2007 bei Wiley erschienen ist, stieß auf eine große Resonanz und wurde bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt.

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