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Letztverantwortung

Entscheidungs­kriterien bei der Besetzung der Spitzen­position

  • Januar 2017

Keine der Aufgaben im Unternehmen ist mit dem Sprung auf die Vorstandsebene zu vergleichen. Ein CEO muss heute weit mehr leisten, als eine Organisation zu führen. Vielmehr wird die Transformation des Unternehmens zur Daueraufgabe. Deshalb geht es bei der Wahl eines neuen CEO vor allem um die objektive Einschätzung seines Potenzials, gemessen an den Herausforderungen seiner künftigen Position.

Es ist eine Situation, mit der sich jedes Unternehmen über kurz oder lang regelmäßig konfrontiert sieht – die Neubesetzung seiner Topposition. Nehmen wir folgendes Beispiel: In einem großen Industrieunternehmen mit mehr als 100 000 Mitarbeitern und einem Umsatz im deutlich zweistelligen Milliardenbereich stand die reguläre Nachfolge des CEO an. Schon mehrere Jahre zuvor hatte der Aufsichtsrat drei potenzielle Kandidaten ausgewählt. Alle drei waren bereits länger im Unternehmen und auf der zweiten Ebene der Organisation für große Verantwortungsbereiche zuständig.

In einem zweijährigen Prozess wurden die Kandidaten gründlich auf die Probe gestellt. Jeder erhielt zusätzlich ein großes strategisches Projekt – Marketing-Sales-Optimierung der eine, Outsourcing bzw. Risikomanagement die beiden anderen. Daneben wurde jeder sorgfältig bei seinen operativen Aufgaben beobachtet. Allen dreien war bekannt, worum es ging, und sie wussten um ihre Konkurrenten. Die Entscheidung fiel schließlich für jenen Kandidaten, dem der Aufsichtsrat die entscheidende strategische Kraft zutraute, das Unternehmen im kommenden Jahrzehnt neu zu definieren. Die beiden anderen verließen den Konzern wenig später und nehmen heute andernorts Führungspositionen ein. Der CEOist immer noch im Unternehmen tätig. Den Ausschlag gab am Ende übrigens die Performance der drei Kandidaten in ihren „normalen“ Jobs, nicht jene in den Sonderprojekten.

Alles richtig gemacht?

Auf den ersten Blick haben Unternehmen und Aufsichtsrat in diesem Fall alles richtig gemacht. Es gab in der unternehmenseigenen Pipeline mehrere Anwärter auf die Spitzenposition. Sie wurden mit zunehmend anspruchsvollen Aufgaben betraut und dabei sorgfältig beobachtet. Der Auswahlprozess erstreckte sich über mehrere Jahre, die finale Entscheidung fiel nicht hektisch in letzter Minute, sondern gut abgewogen. Dennoch stellt sich auch hier eine ganze Reihe von Fragen: Wie hoch sind die Opportunitätskosten durch die beinahe unvermeidliche Selbstpositionierung der ausgewählten potenziellen Nachfolger? Inwieweit wurden auch externe Kandidaten betrachtet? Wie unabhängig war das Auswahl- und Entscheidungsgremium? Worauf gründet es seine Entscheidung? Welche Methoden und Instrumente standen den Aufsichtsräten zur Verfügung? Wie wurden sie angewandt? Und vor allem: Welche Rolle spielte neben den schon gezeigten Fähigkeiten und Kompetenzen der einzelnen Kandidaten ihr für die neue, größere Rolle weit wichtigeres erwartetes Leistungsvermögen, mithin ihr Potenzial? Und wie objektiv und genau konnte dieses eingeschätzt werden?

Gerade bei der Auswahl eines neuen CEO ist die entscheidende Frage, wie viel Luft nach oben bei den einzelnen Kandidaten noch vorhanden ist.

Natürlich gibt die Performance der Vergangenheit wichtige Hinweise auf die zu erwartende Leistung und das Verhalten. Gerade bei der Auswahl eines neuen CEO ist die entscheidende Frage, wie viel Luft nach oben bei den einzelnen Kandidaten noch vorhanden ist; ob sie – wie im Fall des beschriebenen Industriekonzerns – beispielsweise die visionäre Kraft haben, das Unternehmen insgesamt strategisch in einer immer komplexer, volatiler und ambivalenter werdenden Welt neu auszurichten. Können sie in einer medialen Welt das Unternehmen nach innen und außen glaubhaft vertreten und die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Stakeholder-Gruppen entsprechend managen? Können sie eine Kultur der permanenten Transformation implementieren, um das Unternehmen in die Zukunft zu führen? Gelingt es ihnen, andere davon zu überzeugen und sie mitzureißen? Und haben sie die Durchsetzungsstärke und Entschlossenheit, ihre Ideen auch gegen Widerstände zu verwirklichen? Der Fragenkatalog ließe sich vor dem Hintergrund der konkreten Unternehmenssituation beliebig erweitern.

Warum CEO-Nachfolge etwas Besonderes ist

Der CEO eines Unternehmens, sei es der Geschäftsführer eines Mittelständlers oder der Vorstandsvorsitzende eines DAX-Unternehmens, ist ein Treuhänder im klassischen Sinn. Ihm wird das Unternehmen anvertraut. Er oder sie trägt damit die Verantwortung beispielsweise für einen stabilen, besser aber wachsenden Unternehmenswert, für eine nachhaltige Entwicklung, für die Mitarbeiter und für die Verankerung der Organisation in der Gesellschaft.

Der CEO hat damit die sogenannte Letztverantwortung für alle wichtigen, vor allem die zukunftsweisenden strategischen Entscheidungen des Unternehmens. Dafür wird er an Bord geholt. Dieses hohe Maß an Verantwortung erfordert vom CEOwie nie zuvor große Stabilität in seiner Persönlichkeit und außergewöhnliche Leadership-Kompetenzen.

Aus seiner Verantwortlichkeit ergibt sich auch die Alleinstellung des CEO. Er hat keine Kollegen auf der gleichen Ebene. Das klassische Modell der Organverantwortung, bei dem das Vorstands- bzw. Geschäftsführungsgremium gemeinsam verantwortlich auftritt, ist auch hierzulande zunehmend vom amerikanischen CEO-Prinzip mit einem „starken ersten Mann“ an der Unternehmensspitze abgelöst worden. Bisher galt auf jeder anderen Karrierestufe einer talentierten Führungskraft die Fähigkeit zur effektiven Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen als eine der wichtigsten Kernkompetenzen. Beim CEO hingegen braucht diese Kompetenz nicht mehr so ausgeprägt zu sein.

Unsere Beobachtungen in der Praxis zeigen in der Tat, dass mancher erfolgreiche Unternehmenschef in einer früheren Position – zum Beispiel als Bereichsleiter – in dieser Hinsicht oft nicht so gut abgeschnitten hat. Unlängst konnten wir in einer breit angelegten Studie über globale oberste Führungskräfte feststellen, dass gerade in den Chefsesseln überdurchschnittlich viele sogenannte „Spiky Leaders“ zu finden sind; Manager, die in manchen Bereichen exzellent sind, aber bei anderen Führungsfähigkeiten deutliche Defizite aufweisen. Bei der Wahl eines neuen CEO muss der Aufsichtsrat sich also auch darüber klar werden, welche der bisherigen Leistungen und Kompetenzen der Kandidaten für die künftige Führungsrolle wirklich von entscheidender Bedeutung sind, welche weniger.

Worauf es wirklich ankommt

Der CEO muss heute weit mehr leisten, als die Organisation nur zu führen. Fast immer muss er das Unternehmen stark verändern, und das nicht nur in Krisenzeiten, sondern als proaktive Anpassung an ein sich ständig wandelndes Umfeld. Dazu braucht er eine scheinbar widersprüchliche Kombination persönlicher und emotionaler Eigenschaften – ein zwischen Einfühlungsvermögen, Begeisterungsfähigkeit, ausgeprägtem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsstärke oszillierender Charakter gepaart mit der Fähigkeit, in Systemen denken und agieren zu können. Da keine der bisherigen Aufgaben im Unternehmen mit dem Sprung auf die höchste, die fünfte Ebene, wie sie der renommierte US-Organisationsexperte Jim Collins nennt, zu vergleichen ist, geht es also bei der Wahl eines neuen CEO vor allem um die objektive Einschätzung seines Potenzials, bezogen auf die speziellen Herausforderungen seiner künftigen Position. Er muss vor allem über folgende Eigenschaften verfügen.

  • Seine Führungsfähigkeiten kontinuierlich und selbstgesteuert weiterzuentwickeln und aktiv nach neuen Ideen, Informationen, Denkanstößen zu suchen.
  • Komplexität zu erkennen und zu verstehen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, einen Handlungsrahmen zu gestalten, der es dem Unternehmen ermöglicht, auf die von der Umwelt (Markt, Kunden, Wettbewerb, regulatorisches Umfeld etc.) erzeugte Vielfalt mit oft widersprüchlichen Tendenzen bestmöglich zu reagieren.
  • Alle Stakeholder des Unternehmens, intern wie extern, zu verbinden und zu inspirieren. Das beinhaltet: die Fähigkeit, das kreative Potenzial von Mitarbeitern als Ressource für Innovation und Transformation zu erkennen, zu stärken, zu vernetzen und für das Unternehmen nutzbar zu machen; die Fähigkeit, Veränderungsprogrammen eine klare Bedeutung in der „Lebensgeschichte“ des Unternehmens zu geben, die es den Mitarbeitern ermöglicht, sich emotional mit der anstehenden Aufgabe zu verbinden; die Fähigkeit, das Unternehmen strategisch und operativ in das politische und gesellschaftliche Umfeld einzubinden und mit diesem einen Dialog zu führen.
  • Die Entschlossenheit, auch unter schwierigen Bedingungen und gegen Opposition standhaft in seinen Entscheidungen zu bleiben, ohne starrköpfig auf einer einmal eingenommen Position zu beharren. Und sich dabei persönliche Energie und Engagement zu bewahren.

Die große Herausforderung für das Auswahlgremium ist nun, die richtige Mischung dieser Fähigkeiten für die speziellen Belange des betreffenden Unternehmens zu identifizieren. Auch für andere Führungsaufgaben sind viele dieser Elemente von großer Bedeutung, aber nur bei der CEO-Rolle ist die Kombination dieser Elemente so zu finden. Das macht sowohl die Entscheidung für den richtigen Kandidaten als auch dessen Vorbereitung auf die neue Rolle besonders anspruchsvoll.

Im besten Fall ist der oder die Vorsitzende des Aufsichtsrats in Bezug auf die High Potentials in der zweiten und dritten Führungsebene des Unternehmens stets à jour. Denn dort entwickeln sich die möglichen CEOs der Zukunft. Das Aufsichtsgremium kennt die talentiertesten Kandidaten persönlich, ist zudem genau über deren Leistungen, Fähigkeiten und weitere Entwicklungspotenziale informiert. Das ist der Idealfall, der leider nicht immer der Praxis entspricht. Am ehesten gerecht werden diesem Anspruch unserer Erfahrung nach größere Familienunternehmen.

Die richtige Vorbereitung

Wie also kann ein einmal erkannter potenzieller Nachfolgekandidat angemessen auf die neue Rolle vorbereitet werden? Am einfachsten ist die Aneignung formaler Kenntnisse. Komplizierter ist die Sachlage bei den Managementkompetenzen. Die sogenannte „strategische Kompetenz“ beispielsweise – und genau die wird von einem CEO erwartet – basiert nur zu einem kleinen Teil auf der Kenntnis von Methoden. Sie stellt vielmehr eine Mischung von analytischen und kombinatorischen Fähigkeiten dar, ist somit an Intelligenz und Intuition gekoppelt. Und nur die Intuition kann im Laufe der Jahre wirklich reifen. Und noch viel wichtiger: Lässt sich Potenzial entwickeln oder erweitern?

Wer bereits einige Jahre in Organverantwortung agiert hat, vielleicht Vorsitzender eines großen Tochterunternehmens gewesen ist, für den wird die Aufgabe des CEO nicht völlig neu sein. Sinnvoll scheint auch, die Perspektive eines zukünftigen CEO durch Übertragung eines anspruchsvollen strategischen Projekts zu erweitern. Dabei kann der Chef-Aspirant zugleich seine Fähigkeit stärken, andere hochqualifizierte Mitarbeiter in einem komplexen Stakeholder-Prozess einzusetzen. Aber alle wirklich wirksamen Entwicklungsmaßnahmen haben eines gemeinsam – sie dauern Jahre. Und damit bestätigt sich, dass es nicht nur Aufgabe des Aufsichtsrats, sondern die des amtierenden CEO ist, möglichst früh über seine potenziellen Nachfolger nachzudenken. An ihm liegt es, eine Kultur und Strukturen im Unternehmen zu schaffen, in denen sich neue CEOs entwickeln können.

De facto werden rund 80 Prozent aller CEO-Positionen intern besetzt. Gemessen am Shareholder Return ist die Performance intern besetzter CEOs im Schnitt tatsächlich etwas höher; aber eben nur im Schnitt. Gerade in besonderen Change-Situationen treffen extern berufene CEOs manchmal auf weniger Widerstand, weil das Umfeld sich innerlich ohnehin auf eine neue Zeit eingestellt hat. Ein interner Kandidat kennt dagegen die informellen Kräftefelder des Unternehmens besser und kann vielleicht gerade in Krisenzeiten zielgenauer agieren; so er denn nicht dem alten System verhaftet ist.

Es hat sich gezeigt, dass bei den erfolgreichsten CEO-Nachfolgeprozessen immer beide Optionen analysiert werden. Es gibt ein gründliches Assessment interner und externer Kandidaten; zumindest aber ein Benchmarking der internen Kandidaten gegen mögliche Außer-Haus-Konkurrenten. Es trägt sehr zur Glaubwürdigkeit und Legitimation eines internen Kandidaten bei, wenn er auch im Vergleich mit externen Optionen die erste Wahl ist.

Jeder Wechsel an der Unternehmensspitze, wie sorgfältig er auch vorbereitet worden sein mag, bedeutet für die Organisation ein hohes Maß an Diskontinuität. Das komplexe System „Unternehmen“ muss sich bei jedem Führungswechsel neu austarieren. Für den neuen CEO ist es deshalb gerade am Anfang besonders wichtig, offenes Feedback zu bekommen, um seine Aktionen gut auf sein Umfeld gut abzustimmen. Doch seine zuvor beschriebene Rolle als Solist in der Topetage und seine hohe Verantwortung sorgen zumeist dafür, dass die sonst üblichen Kanäle zum Feedback oder gar Coaching versperrt sind. Der neue Chef muss also einen eigenen Weg finden, sich zu erden und seine Defizite zu erkennen, ohne von Kollegen und Mitarbeitern direkt darauf hingewiesen zu werden. Eine wichtige Rolle als Coach, als möglichst objektiver Berater und Begleiter kann in dieser Integrationsphase vor allem der Aufsichts- oder Beiratsvorsitzende spielen. Insgesamt braucht dieser Prozess vor allem eines – Zeit. Somit ist der wirkliche Erfolg eines neuen CEO kaum in den ersten 100 Tagen erkennbar, sondern eher nach drei Jahren. Doch da hat mancher den Chefsessel schon wieder verlassen.

DIE AUTOREN

Dr. Johannes Graf von Schmettow ist seit 1998 Berater bei Egon Zehnder, Düsseldorf, und gehört dem globalen Executive Committee der Firma an. Er ist Mitglied der Life Sciences and Healthcare Services, der Public and Social Sector und der Board Consulting Practices.

Dr. Stephan L. Buchner ist seit 1997 Berater im Münchner Büro von Egon Zehnder. Er ist Mitglied der Consumer, der Private Equity, der Supply Chain und der Family Business Advisory Practices.

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