Russland überfällt die Ukraine, die Volksrepublik China droht Taiwan mit der Annexion. Christoph Heusgen, ehemaliger Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, später UN-Botschafter und jetzt Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, analysiert die neue Weltordnung. Und er erklärt, welche Rolle Deutschland und heimische Unternehmen darin spielen können.
Außenpolitik ist mein Metier. Ich habe 40 Jahre als Diplomat gearbeitet und hatte persönliche Begegnungen mit unzähligen Staatschefs, behaupte zu wissen, wie sie denken und handeln. Doch am letzten Tag der Münchner Sicherheitskonferenz des Jahres 2022, am 20. Februar, habe auch ich nicht gedacht, dass Wladimir Putin es wirklich tun würde. Vier Tage später begann der Einmarsch Russlands in die Ukraine.
Vielleicht ist es das, was eine Zeitenwende auszeichnet. Dass sie mit einem unerhörten und unerwarteten Vorgang einhergeht. Für uns Deutsche markiert dieser Krieg nun schon die dritte Zeitenwende in der Geschichte der Bundesrepublik. Die erste vollzog sich 1949 mit ihrer Gründung: Deutschland wurde zur stabilen Demokratie mit Westbindung. Weil Willy Brandt später mit seiner Ostpolitik Vertrauen im Osten erworben hat, durften wir 1989 die zweite Zeitenwende erleben: den Fall des Eisernen Vorhangs und die Wiedervereinigung.
Wir dachten, nun würde so etwas wie ein ewiger Frieden ausbrechen. Wir haben die osteuropäischen Staaten in die EU und in die NATO integriert. Wir haben Russland die Hand gereicht. Doch dann veränderte sich etwas. Die dritte Zeitenwende kam mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Damit hat Russland einen Zivilisationsbruch begangen und einem anderen europäischen Staat das Existenzrecht aberkannt. Aus meiner Sicht dient die neue, aggressive Politik Russlands allein Putins Machterhalt. Er hat genau beobachtet, wie die Menschen in der postsowjetischen Welt immer lauter gegen die Herrschaft der Oligarchen auf die Straße gingen: in Georgien, in der Republik Moldau, auch in der Ukraine. Und er hat entschieden, dass das in Russland selbst nie passieren dürfe. Das Instrument des harten Nationalismus ist für ihn letztlich Mittel zum Zweck, um von innenpolitischen Problemen abzulenken.
Diese Geisteshaltung darf nicht erfolgreich sein. Denn sollte Russland den Krieg in der Ukraine irgendwie gewinnen, würde Putin in seiner aggressiven Außenpolitik bestärkt und sich als nächstes Moldawien oder Estland vornehmen.
Deutschland muss im Angesicht dieser dritten Zeitenwende seine Außen- und Sicherheitspolitik stärken. Wir haben Glück, dass ein überzeugter Transatlantiker wie Joe Biden im Weißen Haus sitzt. Doch langfristig wollen auch die US-Demokraten nicht, dass die USA weiter die Rolle des Weltpolizisten spielen. Ich bin davon überzeugt: Deutschland muss eine aktivere Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft einnehmen. Wir haben es noch nicht verstanden, unseren Einfluss als viertstärkste Wirtschaftsnation der Welt positiv zur Geltung zu bringen.
Institutionell sollte die Regierung die Aufgaben und Instrumente der Ministerien für Auswärtiges und Entwicklungszusammenarbeit bündeln. Wir können es uns nicht mehr leisten, beide Sphären zu trennen. Wir brauchen einen Nationalen Sicherheitsrat, in dem – wie in den USA oder Großbritannien – Sicherheitsfragen übergreifend in einem einzigen Gremium diskutiert werden: Denn äußere und innere Sicherheit, Cyber-Abwehr, Energiesicherheit hängen so eng zusammen wie nie zuvor.
Und: Wir müssen uns im globalen Süden stärker engagieren. Dafür haben wir eine gute Basis. Deutschland ist der weltweit zweitgrößte Geber von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe und der zweitwichtigste Finanzier im UN-System. Wir bauen zwar keine Häfen, Stadien oder Bahnlinien, aber wir genießen einen guten Ruf. Viele wünschen sich, dass Deutschland häufiger zur Lösung von Konflikten beiträgt.
Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Deutschland gar keine andere Wahl hat, als sich stärker in der Welt zu engagieren. Wenn wir das nicht tun, eine Mauer um Europa herum errichten und uns abschotten, werden andere Länder mit anderen Wertevorstellungen – vorneweg China – dieses Vakuum füllen. Es geht nicht um uns selbst – sondern auch um die Werte, für die wir im europäischen Verbund stehen: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Hier sind alle gefragt, nicht nur Politiker:innen, sondern auch Unternehmer:innen, deren Erfolg auf diesem Wertegerüst basiert. Wir dürfen uns die Zukunft nicht von antidemokratischen Ländern diktieren lassen.
Eine stärkere außenpolitische Rolle ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern auch eine historische Chance für Deutschland und unsere Unternehmen. Wir können unsere Position in der Weltgemeinschaft nur dann nachhaltig stärken, wenn wir den Schulterschluss zwischen gewählten Repräsentant:innen und Unternehmer:innen suchen und unsere Wirtschafts- und Sicherheitspolitik noch stärker aufeinander abstimmen.
Eine stärkere außenpolitische Rolle ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern auch eine historische Chance für Deutschland und unsere Unternehmen. Wir können unsere Position in der Weltgemeinschaft nur dann nachhaltig stärken, wenn wir unsere Wirtschafts- und Sicherheitspolitik noch stärker aufeinander abstimmen.
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