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Interview mit Stephen Green, Chairman der HSBC

„Wer denkt, er könne die Zeit anhalten, indem er einfach die Zugbrücke hochzieht, macht sich etwas vor.“

  • Januar 2017

Focus traf sich in London mit Stephen Green, Chairman der HSBC, zum Gespräch über sich wandelnde Führungsqualitäten und bleibende Werte, über individuelle und ökonomische Resilienz in Zeiten anhaltender Unsicherheit.

WELCH EIN ZUFALL – wir treffen Stephen Green bereits im Aufzug. Er kommt, ganz Diener Ihrer Majestät der Königin, geradewegs vom Buckingham-Palast. Kaum hat er Platz genommen, analysiert er die globalisierte Welt. Ortet die Machtzentren und die neue politische Gemengelage. Weiht uns ein in die Besonderheiten der hauseigenen Corporate Culture und die hohen Anforderungen an das Individuum, wie sie einer der weltweit größten Anbieter von Bank- und Finanzdienstleistungen stellt. Entspannung durch Philosophie und Faust’scher Pakt inklusive.

Focus: Resilienz ist zum Schlüsselbegriff der aktuellen Managementdebatte geworden. Nie war das Thema so brandaktuell wie jetzt in der Krise. Auch, wenn man auf die Welt als Ganzes schaut. Wie ist Ihre Sicht im Hinblick auf die geografische Verschiebung der Machtzentren?
Stephen Green: In der Tat verlagert sich der Machtschwerpunkt der Welt. Was historisch betrachtet wie ein immenser Wandel wirkt, ist in gewisser Hinsicht eigentlich nur die Rückkehr zu einem früheren Status quo. China war 1820 schon einmal die größte Wirtschaftsmacht und wird diese Position künftig, also etwa 200 Jahre später, erneut beanspruchen.
Focus: Inwieweit ist dieser Umstand der Weltfinanzkrise geschuldet?
Green: Die Finanzkrise hat diese Entwicklung beschleunigt. Es geht hier nicht nur um China und auch nicht nur um Asien. Brasilien beispielsweise befindet sich ebenfalls im Aufbruch, und auch in Afrika beobachten wir eine sehr dynamische Entwicklung. All diese Entwicklungen sind miteinander verbunden. Asien ist eine vergleichsweise rohstoffarme Region. Von der rasanten Entwicklung dort profitieren deshalb Länder wie Brasilien, das einer der wichtigsten Exporteure von Eisenerz und Sojabohnen und in der Energieversorgung weitgehend autark ist. Nicht zu vergessen natürlich auch der Nahe Osten, der weltweit größte Lieferant von Kohlenwasserstoffen. So gesehen bilden die Ausdehnung des Handels und der Investitionen in den aufstrebenden Märkten ebenso wie die Verlagerung der Investitionstätigkeit von West nach Ost die wichtigsten Wirtschafts- und Finanzphänomene der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts.
Focus: Verlangt das auch eine gute Portion Resilienz seitens der politischen Akteure?
Green: Auf jeden Fall. Natürlich haben diese Entwicklungen deutliche Auswirkungen auf die internationalen politischen Beziehungen. Der Aufstieg beziehungsweise die Rückkehr auf die Weltbühne von Ländern, deren Stimme großes Gewicht hat für die Lösung der gemeinsamen Probleme der Menschheit, zeigt sich darin, dass die G20-Nationen zum wichtigsten internationalen Koordinationsorgan auf Regierungsebene für die Bewältigung der Finanzkrise geworden sind. Umgekehrt hat dies zur fortschreitenden Marginalisierung der G7- und G8-Länder geführt. Wir stehen kurz vor dem Ende der Ära, in der eine einzige globale Supermacht und ein einziger Wirtschaftsblock das Geschehen auf der Weltbühne bestimmten.
Focus: Wie werden Ihrer Meinung nach die traditionellen Machtblöcke mit dieser Situation zurechtkommen?
Green: Es gibt in der Tat auf vielen Ebenen große Herausforderungen für die traditionellen Machtblöcke. Dies betrifft zunächst einmal natürlich die Beziehungen der Länder untereinander in Bereichen wie Handels- und Investitionspolitik – und natürlich auch das Thema Klimawandel. Von der veränderten Situation ist jedes einzelne Unternehmen weltweit betroffen. Es geht um Chancen, um Gefahren und um die Notwendigkeit zur Anpassung.
Focus: Das klingt nach Veränderungen auf allen Ebenen.
Green: Ja, es sind Veränderungen, die jeden Einzelnen von uns betreffen. Allein schon, wenn es um den Erfolg im modernen Leben und um die beruflichen Zukunftschancen geht. Wer denkt, er könne die Zeit anhalten, indem er einfach die Zugbrücke hochzieht, macht sich etwas vor.

Focus: Auf der anderen Seite geht die Angst um, dass alles wieder wird wie es war, sprich: dass man aus der Krise nichts gelernt hat. Vor allem in der Finanzbranche könnte man als Außenstehender leicht den Eindruck gewinnen, dass die Akteure zum „Business as usual“ zurückgekehrt sind.
Green: Ich denke nicht, dass dieses Risiko besteht. Eine Rückkehr zu den Grundlagen ethischen Handelns ja, aber keine Rückkehr zu den negativen Praktiken im Bankensektor vom Beginn dieses Jahrzehnts.
Focus: Was verleiht Ihnen diese Gewissheit?
Green: Die Märkte würden das nicht tolerieren und die Aufsichtsorgane auch nicht. Zur Zeit ist ein umfassendes Reformprogramm im Gespräch. Bis zum Jahresende werden konkrete Ergebnisse vorliegen in Gestalt besserer Kapitalausstattung, strengerer Liquiditätsparameter und von Beschränkungen im Verhältnis des Einsatzes von Fremdkapital zur Gesamtkapitalisierung. Die Einzelheiten sind zwar noch nicht geklärt, aber schon jetzt ist sicher, dass der Finanzsektor nicht in den alten Trott zurückfallen wird. Ich selbst sehe das letzte Jahr als Übergangsjahr an, in dem Sinn, dass die Branche stabilisiert wurde. Das laufende Jahr ist das Jahr der Debatte darüber, wie das System gestärkt werden kann, um auszuschließen, dass es jemals wieder zu einer Krise diesen Ausmaßes kommt.
Focus: Was sind die Schlüsselthemen der gegenwärtigen Debatte?
Green: Erstens, dass es keine Alternative zu den Märkten als Hauptmotor der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gibt. Von Winston Churchill stammt der berühmte Satz, dass die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen überhaupt sei – abgesehen von allen anderen Formen. Genau so sehe ich auch die freie Marktwirtschaft: Es ist das schlechteste System, abgesehen von all den anderen Systemen, die in der Vergangenheit ausprobiert wurden. Wenn sie gut funktioniert, ist sie eine mächtige Triebkraft der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Focus: Wohnt also der Marktwirtschaft selbst die größte Resilienz inne?
Green: Absolut. Wenn die Marktwirtschaft funktioniert, kann sie – wie in Indien und China – Millionen von Menschen helfen, die Armut zu überwinden. Sie kann aber auch destruktiv und unstetig sein, und auf einer tieferen Ebene kann sie sogar, wenn man nicht achtsam ist, menschliche Beziehungen vergiften.
Focus: Sie reden aber nicht dem Neo-Liberalismus das Wort?
Green: Auf keinen Fall! In den letzten 20 Jahren hat eine Marktfundamentalisierung stattgefunden, eine Fundamentalisierung in der Art, dass sich Unternehmen sagten: Wenn ich einen Vertrag in der Tasche habe, ein entsprechendes Produkt und einen Markt dafür, muss ich mir nicht die Frage stellen, ob ich richtig oder angemessen handele. Es besteht keine Notwendigkeit, über diesen Vertrag hinaus eine Beziehung zu den Käufern des Produkts aufzubauen. Sie haben das Produkt im Markt gekauft und fertig! Dieser Geist, der in den letzten 20 bis 30 Jahren nicht nur in den Finanzmärkten, sondern in der Gesellschaft ganz allgemein um sich gegriffen hat, ist für das Wohlergehen der Menschheit und für den sozialen Umgang miteinander sehr gefährlich. In diesem Kontext haben nämlich viele Firmen ihre wirkliche „raison d’être“, den Grund für ihre wirtschaftliche Tätigkeit, aus den Augen verloren.
Focus: Geht es Ihnen um den Unterschied zwischen legal und legitim?
Green: Es geht darum, Sinn und Zweck eines Unternehmens vom Standpunkt des Nutzens für die Gemeinschaft zu definieren. Wurde diese Art von Diskurs vor zehn, 15 Jahren noch als realitätsfern, altmodisch und irrelevant abgetan, so steht er heute zu Recht wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Focus: Erleben Werte also ein Comeback?
Green: Ich würde eher von einem Wiederaufleben des Diskussionsbedürfnisses darüber sprechen, welche Werte unser unternehmerisches Handeln bestimmen sollen.
Focus: Hat die Finanzkrise Ihrer Meinung nach noch andere wichtige Auswirkungen?
Green: Aufgrund der Finanzkrise sind jetzt mehr technische Themen auf dem Tisch: Wie genau definiert man Kapital und Liquidität? Wie sieht das optimale gesetzliche Umfeld aus? Und andere wichtige makroökonomische Fragestellungen. Die Krise resultierte ja nicht einfach aus den Exzessen und dem Überschäumen der Finanzmärkte. Sie war das Produkt globaler Ungleichgewichte. Deshalb kommt es darauf an, die Weltwirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In den aufstrebenden Märkten brauchen wir wieder mehr Konsum und weniger Sparsamkeit, in den reiferen Märkten dagegen eher das Gegenteil, nämlich mehr Spartätigkeit und weniger Verbrauch.
Focus: Zurück zum Thema Resilienz. Wie sieht es aus bei der HSBC? Gab es aufgrund Ihrer Unternehmenswerte eventuell Verhaltensweisen, die es Ihnen ermöglicht haben, die Krise besser zu meistern als andere?
Green: Es wird Sache der Business Schools sein, hierüber zu befinden. Aber wenn Sie den Bankensektor betrachten, sehen Sie, dass es kein Patentrezept gibt. Unter den Kreditinstituten, die ins Schlingern geraten sind, finden sich einige ganz große Namen, aber auch kleinere Banken. Einige sind hinsichtlich ihres Angebots sehr breit aufgestellt, andere haben einen genau begrenzten Schwerpunkt. Folglich gibt es keine einfache Antwort darauf, wie das optimale Geschäftsmodell aussieht. Wir als Unternehmen und ich selbst sind aber davon überzeugt, dass einige der bewährten Prinzipien, die unser Handeln in den letzten 100 Jahren bestimmt haben – also eine solide Kapitalausstattung und Liquidität, ein diversifiziertes Angebot –, uns bei der Bewältigung der Krise sehr geholfen haben.

„Corporate Social Responsibility ist für ein tiefes Verständnis der wahren Unternehmensziele unverzichtbar.“

Focus: Wie haben diese etablierten Handlungsprinzipien die Art und Weise bestimmt, wie Sie sich als Finanzinstitut und in Ihrer Rolle in der Gesellschaft sehen?
Green: Sagen wir mal so: Ich könnte Ihnen Briefe zeigen, die von Menschen geschrieben wurden, die um das Jahr 1900 eine Führungsposition in der Hongkong Shanghai Banking Corporation innehatten, aus denen eine Zielorientiertheit und ein ethisches Verständnis sprechen, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Der Unternehmenszweck hat verschiedene Facetten: Erstens sind Sie kein wohltätiges Unternehmen. Ihr Unternehmensziel liegt darin, Gewinn in Gestalt langfristiger Profitabilität zu erwirtschaften. Sie sollen die Aktionärsgewinne kurz-, mittel und langfristig steigern. Deshalb müssen Sie Ihr Augenmerk auf eine langfristige Partnerschaft mit Ihren Kunden richten. Zweitens müssen Sie mit einem entsprechend langfristigen Fokus sinnvoll in Ihre Mitarbeiter und in das Unternehmen allgemein investieren. Drittens tragen Sie Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft, in der Sie agieren. Corporate Social Responsibility ist für ein tiefes Verständnis der wahren Unternehmensziele unverzichtbar.
Focus: Die Resilienz von HSBC ist also in einer Kultur verankert, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt hat?
Green: Charakteristisch für die Institution HSBC ist eine sehr selbstkritische Haltung. Das ist deshalb so wichtig, weil nicht immer alles nach Plan läuft. Außerdem verändern sich die Landschaft und das Umfeld ständig. Wer selbstzufrieden wird, hat schon verloren.
Focus: Wie lässt sich einerseits vermeiden, dass eine erfolgreiche Organisation und ihre Mitarbeiter selbstgefällig werden, und andererseits sicherstellen, dass sie für die nächste Krise gewappnet sind?
Green: Es ist Sache des Managements, für ein Klima zu sorgen, in dem Selbstherrlichkeit keinen Platz hat. Allerdings kann man sich gegen Krisen nicht wappnen, in dem Sinn, dass man jeglichem Risiko aus dem Weg geht. Ohne Risiko gibt es keinen Fortschritt. Risiken einzugehen, bedeutet per definitionem, dass auch Dinge schieflaufen. Deshalb brauchen Sie die nötige Stärke, um angesichts des Unvorhersehbaren resilient zu sein. Sie benötigen eine starke Unternehmenskultur, die sich ständig kritisch hinterfragt.
Focus: Ihnen persönlich sind christliche Werte sehr wichtig. Und bleibende Werte scheinen eine wichtige Rolle für die Resilienz Ihres Unternehmens zu spielen. Würden Sie sagen, dass Menschen eine starke Werteorientierung fordern? Und wenn ja, wie lässt sich dem nachkommen?
Green: Der Wertekanon gleicht sich weltweit erstaunlicherweise sehr, die Menschen streben auch im Business eine menschliche Beziehung an. Sie wollen, dass unternehmerisches Handeln auf Vertrauen basiert. Ob ich Brasilien, Mexiko, China, Indien, Indonesien, die Türkei, Großbritannien oder Deutschland bereise: So unterschiedlich die einzelnen Länder sind, so verblüffend einheitlich ist doch überall das Verständnis davon, was nachhaltigen, langfristigen Unternehmenserfolg ausmacht.
Focus: Glauben Sie, dass die Unternehmenskultur und die Werte von HSBC langfristig Bestand haben werden?
Green: Ja, aber nur, wenn wir aktiv daran arbeiten. Meines Erachtens besteht die wichtigste Aufgabe des Vorstands und des Top-Managements darin, die Werte und die Kultur eines Unternehmens lebendig zu halten, sie zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Das ist die wichtigste Aufgabe überhaupt.
Focus: Wie managen Sie diese Herausforderung?
Green: Als Vorstand nehmen wir alljährlich die Werte und ihre Umsetzung in die Praxis genau unter die Lupe. Dazu führt das Management eine Mitarbeiterzufriedenheitsstudie unter allen 300 000 Mitarbeitern weltweit durch. Die Beteiligung ist immer sehr hoch. Bei dieser Studie stellen wir viele Fragen aus sehr unterschiedlichen Bereichen: Wie sind die Arbeitsbedingungen, wie zufrieden sind die Mitarbeiter in ihrem Job, wie gut kommen sie mit den hierarchischen Strukturen des Unternehmens klar, wie sehen sie die unternehmerische und soziale Verantwortung der Bank? Aus den Antworten gewinnen wir eine Fülle von Informationen zu unseren Stärken und Schwächen. Was die Umfrage immer wieder zutage fördert, ist die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Mitarbeiter sehr davon angetan ist, dass die Bank sich sozial engagiert, vor allem im Bildungs- und Umweltsektor. Auf solche Dinge kommt es an, und sie machen einen wesentlich Teil dessen aus, was es braucht, um einen Zusammenhalt im Unternehmen und Begeisterung für die Sache zu etablieren. Die überwältigende Mehrheit der Mitarbeiter möchte mehr von ihrem Job haben als nur Geld.
Focus: Wie wirkt sich Ihrer Erfahrung nach externes Wachstum auf die Haltung und Einstellung der Mitarbeiter aus?
Green: In letzter Zeit hat es kaum größere Zukäufe gegeben. Dennoch müssen wir uns bei jeder Übernahme fragen: Können wir sicherstellen, dass das für unsere Bank so wichtige Unternehmensethos auch auf das neu übernommene Unternehmen übertragen werden kann?
Focus: Gibt es einen besonderen Typus des High Potentials, der perfekt zu Ihrer Unternehmenskultur passt?
Green: Wir unterscheiden uns von anderen Unternehmen dadurch, dass wir relativ wenige Mitarbeiter extern rekrutieren. Unser Führungsteam setzt sich mehrheitlich aus Mitarbeitern zusammen, die einen Großteil, wenn nicht sogar ihr gesamtes Berufsleben bei uns verbracht haben. Ich selbst bin erst seit 28 Jahren bei HSBC, aber unser CEO Mike Geoghegan kam direkt nach der Schule zu uns. Douglas Flint, unser Finanzvorstand, trat vor 15 Jahren in die Bank ein. Im Vergleich zum Gros unserer Wettbewerber ist das ein sehr erfahrenes Führungsteam. Das sagt viel über die Unternehmenskultur aus. Vor allem was die Universitätsabsolventen angeht, ist das sehr wichtig. Sie brauchen Nachwuchskräfte, die hinsichtlich der in Ihrer Unternehmenskultur verankerten Geschäftsstrategien voll und ganz auf einer Wellenlänge mit Ihnen liegen, die elektrisiert sind von dem Gedanken an Internationalisierung und Globalisierung. Menschen, die leuchtende Augen bekommen angesichts der faszinierenden, kaleidoskopischen Komplexität der Welt. Für diese Hoffnungsträger haben wir unser International Management Program für Hochschulabsolventen entwickelt.
Focus: Die Corporate Culture von HSBC besitzt also eine spezifische DNA?
Green: Ich sehe das so: Unsere Unternehmenskultur ist das Bindeglied, das uns alle zusammen hält.
Focus: Bei unseren Gesprächen mit Senior Executives gewinnen wir oft den Eindruck, dass diese zunehmend Stress und Druck ausgesetzt sind. Bedarf es heute folglich einer immer größeren persönlichen Resilienz? Oder lässt der Druck eher wieder nach?
Green: Ich glaube nicht, dass der Stress je wieder nachlassen wird, aber es gibt unterschiedliche Arten, mit Stress umzugehen. Ich bin sicher, dass jeder, der heute eine Führungsposition bekleidet, in gewisser Weise Stress auch als motivierend empfindet. Man tauscht sich mit Kollegen darüber aus, wie sie mit Stress umgeben. Viele sagen: Schalten Sie Ihren Blackberry mindestens einen Tag in der Woche aus. Das finde ich schon mal eine gute Idee. Meines bleibt sonntags immer aus. Wenn mich jemand dringend erreichen muss, gibt es ja auch noch das Telefon. Wichtig sind auch eine vernünftige Lebensweise, Sport, gesunde Ernährung und all das. Ich persönlich lese sehr viel, keine Fachartikel, sondern Bücher zu geschichtlichen und philosophischen Themen oder Romane. Wenn möglich, versuche ich jeden Abend wenigstens 20 Minuten lang zu lesen, bevor ich das Licht lösche.

„In stressigen oder bedrohlichen Situationen lernt man sich selbst besser kennen.“

Focus: Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie Parallelen zwischen Goethes Faust und der aktuellen Krise sehen.
Green: Faust ist ein ganz besonderes Phänomen. Er ist einer der große Archetypen der Menschheit. Viele Menschen sind versucht, sich auf den Faust’schen Pakt einzulassen.
Focus: Würden Sie uns in Ihrer Eigenschaft als Autor von „Serving God? Serving Mammon?“ etwas zum Thema Versuchung sagen?
Green: Keiner von uns ist gegen Versuchungen ganz gefeit. Das Interessante an diesen archetypischen Geschichten wie Faust ist doch aber, dass sie für so viele Menschen relevant sind. Ein anderer Aspekt, den ich aus der christlichen Überzeugung ableite, den andere aber vielleicht auch aus anderen Quellen ableiten können, ist, dass keiner von uns unfehlbar ist. Das ist aber kein Grund zur Verzweiflung. Wir sollten es einfach als Faktum hinnehmen – und ehrlich mit uns selbst sein. Man muss es sich eingestehen, wenn man Schuld auf sich geladen hat. Es bedeutet aber auch zu erkennen, dass man immer wieder die Chance auf einen Neuanfang bekommt. Diese tiefgründigen Wahrheiten über das Wesen des Menschen sind per se wichtig, aber auch in ihrer Anwendung im wirtschaftlichen Umfeld. Da wir alle einen hohen Prozentsatz unserer kreativen Energie in das geschäftliche Umfeld investieren, kann es nicht überraschen, dass grundlegende menschliche Eigenschaften die Art und Weise bestimmen, wie wir arbeiten.
Focus: Stärkt die Erfahrung, erfolgreich mit Krisen umzugehen, tatsächlich die Resilienz?
Green: Sicher ist, dass wir alle aus Krisen etwas über uns selbst erfahren. In stressigen oder bedrohlichen Situationen lernt man sich selbst – und andere – besser kennen.

Das Interview mit Stephen Green in London führten (von links) Jackie Wong, Egon Zehnder, Hongkong, Ulrike Mertens, Focus, und David Kidd, Egon Zehnder, London.

Stephen Green

Seine Karriere vom knallharten Kostenkontrolleur zum Grandseigneur des englischen Bankwesens (und ehrenamtlichen anglikanischen Pfarrer) darf als exzeptionell bezeichnet werden. Stephen Green (62), stammt aus Brighton im Süden Englands. Er studierte in Oxford am namhaften Exeter College aufgrund seiner Leidenschaft für Goethe und die deutsche Kultur zunächst Deutsch, sattelte dann aber um auf Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften. Nach dem Studium arbeitete er ein Jahr lang in einem Londoner Wohnheim für Alkoholiker auf Entzug, wo er seine spätere Frau Jay, ebenfalls Volontärin, kennenlernte. Von 1977 bis 1982 unterwegs als McKinsey-Berater, führten ihn seine Aufträge durch ganz Europa, vorneweg nach Deutschland, aber auch nach Nordamerika und in den Nahen Osten. Im Alter von 34 Jahren wechselte er zur HSBC nach Hongkong.
Im März 2003 schließlich stieg er auf an die Spitze und wurde CEO mit Sir John Bond als Chairman an seiner Seite. Ende November 2005 ging Bond in den Ruhestand. Stephen Green übernahm in der Folge sein Amt. Er ist außerdem Chairman der British Bankers’ Association, Member of the Prime Minister’s Business Council for Britain (seit dessen Gründung im Jahr 2007) und Trustee of the British Museum. Green ist auch Buchautor. In seinen Werken „Serving God? Serving Mammon?“ und „Wahre Werte. Über Moral, Geld und die Zukunft“ analysiert er das Evangelium und die Finanzwelt und sucht die Aussöhnung zwischen Mensch, Gott und Kapitalismus.

HSBC The world’s local bank

Die Hongkong and Shanghai Banking Corporation wurde 1865 gegründet. Die Idee zur Gründung der Bank stammte zwar von einem schottischen Geschäftsmann, doch sowohl die ersten Kunden als auch die ersten Anteilseigner waren Kaufleute aus den Ländern, die im Südchinesischen Meer Handel betrieben. Die neue Bank mit Sitz in Hongkong baute rasch ein Niederlassungsnetz in Hafenstädten in Asien, Europa und den USA auf und folgte damit ihren Kunden auf dem geschäftlichen Expansionskurs. Durch die Vergabe von Krediten an asiatische Länder gewann die Bank rasch an Bedeutung und galt bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als führendes Finanzinstitut in Fernost. In der Nachkriegszeit suchte die Bank auf Grund der veränderten Machtverhältnisse in China neue Möglichkeiten zum Ausbau ihres Geschäfts. Zukäufe im Mittleren Osten und in Indien leiteten in den fünfziger Jahren den Wandel der HSBC zu einem globalen Bankkonzern ein. Ein Meilenstein war dabei die Übernahme der britischen Midland Bank 1992 und die Verlegung der Konzernzentrale nach London. Heute hat die Bank Standorte in 88 Ländern und 300 000 Mitarbeiter weltweit. Es gelang der Bank, relativ glimpflich und ohne Beanspruchung von Staatsgeldern durch die Weltwirtschaftkrise zu kommen. Stephen Green hatte sich schon als CEO geweigert, an den Exzessen der Finanzmärkte mitzumischen. Dafür steht er heute unbescholten da, ein Fels in der Brandung.

FOTOS: JÜRGEN FRANK

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