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Treiber des Fortschritts

Der Trend zur Konvergenz stellt Unternehmens­führer vor eine wachsende Zahl komplexer Anforderun­gen.

Globalisierung, Digitalisierung und neue soziale Netzwerke bestimmen unseren Alltag. Sie greifen tief in unser Leben ein und verwischen die Grenzen zwischen innen und außen. Auch zwischen den klassischen Wirtschaftsbranchen verlieren die herkömmlichen Grenzziehungen an Relevanz: Branchen wachsen nicht nur immer enger zusammen – dort wo sie zusammenkommen, bringen sie neue Geschäftsmodelle und Unternehmensformen hervor. Eine nie dagewesene Vielfalt neuer Produkte und Dienstleistungen geht einher mit dem Verlust an Orientierungspunkten. Top-Manager sehen sich vor grundlegend neue Anforderungen an ihre Führungsqualitäten gestellt. Um ihnen zu genügen, müssen sie eine Vielzahl von Fähigkeiten in sich vereinen und diese in einer neuen Qualität zusammenspielen lassen.

WAS HABEN Telefon und Kamera miteinander gemein? Gar nichts, hätte man noch vor wenigen Jahren gesagt – und getrost hinzufügen können: „Warum denn auch?“

Heute trägt jeder ein Gerät in der Tasche, bei dem das klassische Telefonieren und Fotografieren nur zwei Anwendungen unter vielen anderen sind. Die Verbindung von Telefon und Kamera in einem einzigen Gerät hat nicht einfach deren Eigenschaften addiert, sondern darüber hinaus etwas geschaffen, das es vorher noch gar nicht gab: die Möglichkeit, Bilder quasi mit der Aufnahme zu versenden. In der Verbindung von Telefon und Kamera haben beide Komponenten miteinander reagiert in einer Weise, die etwas gänzlich Neues hervorgebracht hat. Etwas, das völlig neue Möglichkeiten eröffnet und neue Kommunikationsformen mitgestaltet.

Wer sein Leben mit einem Smartphone organisiert, der mag dieses Beispiel für Konvergenz, für die Verschmelzung zweier traditionell unterschiedener Funktionen, als einen alten Hut abtun. Dabei hat es durchaus etwas Verstörendes und Verunsicherndes. Alte Gewohnheiten, Erwartungen und Märkte sind außer Kraft gesetzt, neue sind entstanden.

Unablässig neue Verbindungen

Im Phänomen der Konvergenz verbindet sich das vorher nie Zusammengedachte – und vielleicht für unvereinbar Gehaltene. Wer es als Erstes sieht, wer als Erstes in der Lage ist, eine vermeintliche Grenze in Frage zu stellen und eine neue Kartierung ins Zentrum seines Tuns zu rücken, kann die Industrielandschaft verändern.

Konvergenzerscheinungen sind allgegenwärtig – die Digitalisierung führt dazu, dass Wissensinhalte in nie dagewesenem Umfang und großer Geschwindigkeit rund um den Globus verfügbar sind. Menschen tauschen sich aus, ihre Lebensformen gleichen sich an, Wissen und Kenntnisse konvergieren. Dennoch ist das Ergebnis kein Einheitsbrei. Aus der Begegnung, Anregung und Neukombination verschiedener Bereiche gehen vielmehr unablässig neue Verbindungen hervor: neues Wissen, neue Märkte, neue Techniken und Verfahren, neue Produkte und Dienstleistungen – und damit neue Geschäftsmodelle und Unternehmensformen. Konvergenz wird zu einem Motor, der unablässig Neues in die Welt setzt, ein Treiber des Fortschritts.

Drei Beispiele mögen das illustrieren:

  • Bionik. Die Disziplin der Bionik trägt die Verbindung bereits in ihrem Namen. Völlig neue Eigenschaften von Produkten, die sich an Lösungen aus der Natur orientieren, verändern unseren Alltag und erlauben eine neue Sicht auf die Verbindung von Natur und Technik. Bakterien helfen, die Folgen der Ölpest im Golf zu beseitigen. Bionische Prothesen verbinden sich mit dem Körper und schaffen Möglichkeiten jenseits der Körperfunktionen, die sie ersetzen.
    Analogien aus der Biologie helfen in wachsendem Maße aber auch dabei, Managementprozesse besser zu verstehen und effizienter zu gestalten. Wilbert Gore, der Erfinder wasserdichter Textilien, nahm sich noch die Amöbe als Modell, als er den einzelnen Nieder­lassungen seines Unternehmens vorschrieb, sich zu teilen, sobald sie eine bestimmte Größe erreicht hätten; so wollte er der Bildung von Hierarchien vorbeugen und Kommunikation erzeugen. Inzwischen hat die Bionik Einzug gehalten in General Management, Marketing und Vertrieb. Die „Markenbionik“ versteht Marken als lebende Systeme und sucht ihre natürlichen Eigenkräfte zu erkennen und zu nutzen.
  • E-Mobility. Auf der Suche nach neuen Formen der Mobilität, die von fossilen Brennstoffen unabhängig machen, gehen Automobilhersteller neuartige Kooperationen mit Energieunternehmen und Batterieherstellern ein. Im Zeichen der „E-Mobility“ erfährt die Batterie, die lange als Kleinteil galt, das keiner größeren Beachtung wert war, eine deutliche Aufwertung. In der neuen Mobilität wächst ihr eine zentrale Rolle zu, und nur wer die Systeme in Zukunft gesamtheitlich denken kann, wird erfolgreich sein. Prognosen gehen bereits dahin, dass sie die Autohersteller, wie wir sie heute kennen, künftig aus der Mitte der Wertschöpfungskette verdrängen werden. Und ganz neue Geschäftsmodelle entstehen, die den Individualverkehr in bisher noch ungeahnter Weise neu definieren werden.
  • New Media als Verbindung von Telekommunikation, Informationstechnologie und Medieninhalten. Hier ist bereits ein neues Feld entstanden, in dem wir Unternehmen nur noch der Bequemlichkeit halber den Industrien zuordnen, obwohl bereits jede Grenze verschwunden ist. Fernsehen und Internet kommen über die Telefonleitung genauso wie über das Stromnetz ins Haus, ein iPhone mit seinen Applikationen ist alles andere als ein Endgerät für Telefonie. Dies bedeutet aber auch, dass jeder der Spieler ständig seinen Markt neu definieren und neue Wettbewerber und Partner im Blick haben muss. Wo alles im Fluss ist, wird es aber für Unternehmen sogar zum Problem, sich selbst zu definieren – oder ist es eine Chance? Apple ist längst mehr als ein Hardware-Hersteller – aber was ist es nun, und wer wird der größte Wettbewerber? Sich permanent erfolgreich neu zu positionieren ist auf dem Gebiet der Neuen Medien eine Überlebensfrage.

Innovationen über Industriegrenzen hinweg

All diese Beispiele enthalten Elemente, die nicht gänzlich neu sind. So war es schon immer ein Merkmal von Intelligenz, Muster und Ähnlichkeiten zu erkennen. Und von jeher zeichnete es kreative Menschen aus, dass sie neue, überraschende Verbindungen zwischen Bereichen herstellen können, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Doch in ihrer Kumulation und der Anwendung auf alle Bereiche der Wirtschaft haben diese Prozesse eine neue Qualität gewonnen. Konvergenz ist nicht länger nur ein Begriff zur Beschreibung von Entwicklungen, sondern ist selbst zu einem gestaltenden und produktiven Faktor geworden. Die Erfahrung, dass die nächste Herausforderung aus einer unbekannten Ecke kommen kann, veranlasst Unternehmen dazu, sich nicht länger nur mit Wettbewerbern aus der eigenen Branche zu vergleichen, sondern den Blick über die Grenzen der eigenen Industrie hinauszuwerfen. Die Übernahme von Wissen, Techniken und Geschäftsmodellen aus branchenfremden Bereichen (Cross Industry Innovation) verspricht oftmals weit bessere Resultate als das traditionelle Benchmarking – und treibt den Wettbewerb auf ein schwindelerregendes Niveau.

Solche permanenten Umwälzungen verlangen den Verantwortlichen in den Unternehmen neue Fähigkeiten ab. Die Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sehen, wachsen in neue Dimensionen. Früher einmal mag es genügt haben, wenn Spitzenmänner und -frauen in ihrem eigenen Fach hervorragend waren. Doch wenn die Grenzen dieses Faches ins Wanken geraten und sich auflösen, ist es damit nicht länger getan. Wer sich an der Spitze behaupten will, muss inzwischen nicht nur das eigene Handwerk beherrschen, sondern auch die Logik anderer Branchen verstehen – und darüber hinaus ein Gespür dafür entwickeln, wie sie zusammenwirken und den Markt neu definieren können. „Was wir benötigen, das sind integrative Manager mit Wissen und Erfahrungen aus zwei oder mehreren Industrien“, sagt der Schweizer Konvergenzforscher Fredrik Hacklin.

Transformational Leadership

Dabei kann aber ein „Wissen um Mehr“ nicht ausreichen. Von Top Executives wird erwartet, dass sie die Transformationsprozesse initiieren, gestalten und vermitteln – Mitarbeiter und Mannschaften, die diesen Weg gehen und mitgestalten sollen, müssen besonders motiviert werden. Wenn sich die Spielregeln grundlegend ändern, vertraute Sicherheiten schwinden und ganze Industrien sich der Aufgabe stellen, sich neu zu definieren, stehen auch die Führungskräfte vor Aufgaben einer neuen Qualität. Um die Herausforderungen zu meistern, die von diesen großflächigen Veränderungsprozessen ausgehen, bedürfen sie eines ganzen Bündels von Fähigkeiten, die wir zusammenfassend Transformational Leadership nennen. Dabei stechen vier Komponenten hervor.

Der systemische Umgang mit Komplexität – Gerade in Konvergenzsituationen erreichen die Herausforderungen einen Grad an Komplexität, der nicht länger mit linearen organisatorischen Ansätzen gemeistert werden kann. Herausragenden Unternehmensführern gelingt es in diesen Situationen, einen Handlungsrahmen zu schaffen, der es dem Unternehmen erlaubt, flexibel neue Perspektiven einzunehmen und dadurch zu definieren, was für das Unternehmen zukünftig relevant ist. Sie finden eine authentische Sprache für das Neue, um die Aufmerksamkeit zu lenken und intern gezielt den notwendigen Grad an Komplexität aufzubauen, um aus den Herausforderungen einen Wettbewerbsvorteil zu machen. So erkennt beispielsweise Apple als erstes Unternehmen, dass eine offene Application Platform dem iPhone zum Durchbruch verhelfen wird. Dies verlangt nicht nur eine Idee, dies verlangt einen systemischen Blick auf Komplexität und die Fähigkeit, auf diese mit allen Strukturen, Prozessen und Steuerungsinstrumenten angemessen zu reagieren.

Das Orchestrieren von Kreativität – Die Quelle von Innovation und Transformation und damit für den zukünftigen Erfolg eines Unternehmens ist das kreative Potential der Mitarbeiter. Dies gilt insbesondere, wenn es um das Neuerfinden des gesamten Geschäftsmodells geht, und es ist auch deshalb eine besonders wertvolle Ressource, da Kreativität nicht einfach angeordnet werden kann. Top-Managern gelingt es, ein Umfeld zu schaffen, in dem Neuansätze gestärkt und Risiken belohnt werden, aber gleichzeitig durch klare Prozesse dafür zu sorgen, dass sich Ideen im Wettbewerb bewähren müssen. Sie schaffen eine Kultur der „Wiederholung des Einzigartigen“, in der es aber ebenso als Erfolg zählt, falsche Wege frühzeitig zu verlassen. Hierzu müssen sie nicht nur die notwendige Risikobereitschaft vorleben, sondern auch über eine präzise Einschätzung ihres eigenen Kreativpotentials verfügen. Schließlich sind sie nicht dann erfolgreich, wenn sie nur das entdecken, was sie sich selbst vorstellen können. Sie müssen vielmehr in der Lage sein, die Kreativität einer ganzen Organisation zielgerichtet zu orchestrieren, damit ein dauerhafter Wettbewerbsvorteil entsteht.

Das Emotionalisieren von Veränderung – Herkömmliche Veränderungsprogramme, die sich allein auf das sachlich Richtige konzentrieren, reichen nicht aus, um einen grundlegenden Wandel in ein Unternehmen zu tragen. Nur wenn die Mehrheit der Mitarbeiter auch emotional den Weg als wichtig und richtig empfindet, entsteht die notwendige Bewegung. Herausragenden Führungspersönlichkeiten gelingt es, ihren Transformationsprogrammen eine klare Bedeutung im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte des Unternehmens zu geben und einen Kontext zu schaffen, in dem die angestrebten Veränderungen die historische „Mission“ des Unternehmens auf eine neue Ebene heben. Mit dem Einsatz von angemessenen Bildern, Symbolen und Geschichten verbinden sie das Unternehmen, das Veränderungsprogramm und ihren eigenen Auftrag als Führungspersönlichkeit so miteinander, dass ein neuer Ordnungsrahmen entsteht. Ein Ordnungsrahmen, in dem sich die Mitarbeiter mit dem Unternehmen emotional verbunden fühlen und der ihnen hilft, auch dann noch im Sinne des Programms zu handeln, wenn keine Handlungsanweisung im Detail vorgibt, was zu tun ist.

Die Verankerung des Unternehmens in der Gesellschaft – Gerade die Bankenkrise hat wieder vor Augen geführt, wie sehr Unternehmen davon abhängen können, von der Gesellschaft gestützt zu werden. Und die Diskussion um Regulierung zeigt, dass die Gesellschaft mit Recht danach fragt, ob Unternehmen und Industrien auch einem gesellschaftlichen Nutzen oder nur dem eigenen Gewinnstreben verpflichtet sind. Die Gesellschaft erwartet Antworten auf diese Fragen, und Top-Manager können sich deshalb nicht länger damit begnügen, allein im Kontext eines Unternehmens und dessen Wettbewerbsumfeldes zu wirken. Sie müssen vielmehr in der Lage sein, einen Gestaltungsanspruch auch gegenüber der Gesellschaft zu erheben und einzulösen. Dies geschieht durch das permanente Mitdenken und Mitkommunizieren der gesellschaftlichen Implikationen des unternehmerischen Handelns und durch das bewusste und konsequente Besetzen einer Rolle in der Gesellschaft. Diese Rolle kann nicht willkürlich gewählt sein, sondern muss wiederum im Einklang mit der Unternehmenshistorie, der langfristigen Zielsetzung und der Persönlichkeit des Unternehmenslenkers stehen. Inkonsequenzen oder Kompromisse sind hier unverzeihlich, langfristig konsequentes Handeln hingegen bildet einen „Markenkern“, der in der nächsten Strukturkrise das Überleben sichern kann.

Authentizität statt Management-Stereotype

Jenseits des handwerklich Richtigen entscheidet immer wieder die Authentizität in der Wahl der Mittel darüber, ob die notwendige emotionale Verbindung zwischen Veränderungsaufgabe, Unternehmensphilosophie und Führungspersönlichkeit entsteht, die eine großflächige Veränderung erst möglich macht. Wer erfolgreich durch die gegenwärtigen und künftigen Transformationsprozesse führen will, kann nicht einfach in den Werkzeugkasten der Methoden greifen. Es ist nicht damit getan, eine Rolle zu spielen oder einen besonderen Führungsstil anzunehmen, wie etwa den des vielzitierten „charismatic extroverted leader“. Es kommt vielmehr darauf an, Authentizität zu leben und im Sinne des Unternehmens einzusetzen. Richtungsweisend erscheinen hier Unternehmen, deren Führungskultur von verantwor­tungs­bewussten Persönlichkeiten geprägt wird, die höchst erfolgreich agieren, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Sie sind oftmals stark inhaltlich getrieben und in ihrem Auftreten eher unauffällig, und wir erkennen sie nicht immer sofort als Vorbilder; aber sie folgen ihren eigenen Überzeugungen und prägen in ihrer Authentizität ihr Unternehmen und die Gesellschaft in nachhaltiger Weise, und darin sind sie nachahmenswert.

DER AUTOR

Dr. Friedrich Kuhn ist seit 2001 Berater bei Egon Zehnder, Berlin. Er leitet die Aktivitäten der globalen Life Sciences & Healthcare Services Practice. Zu seinen Klienten gehören globale Pharma- und Medizin­technik-Unternehmen ebenso wie Start-up-Unternehmen aus dem Bereich der Biotechnologie.

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