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Ulrich Spiesshofer, CEO des Technologiekonzerns ABB, und Bertrand Piccard, Wissenschaftler, Forscher und Initiator von Solar Impulse, über Pioniergeist und Motivation in ungewissen Zeiten.

  • Dezember 2016

Grenzen zu verschieben, das scheinbar Unmögliche wahr werden zu lassen, gepaart mit dem uralten Menschheitstraum vom Fliegen – beim Besuch im Flugzeughangar von Bertrand Piccard konnte ABB -Chef Ulrich Spiesshofer mit eigenen Augen sehen, wie eine visionäre Idee Wirklichkeit wird. Dort arbeitet ein Team handverlesener Spezialisten an der „Solar Impulse“, dem ersten nur von Sonnenenergie getriebenen Flugzeug, das sowohl bei Tag als auch bei Nacht fliegen kann. Piccard, aus einer Dynastie von berühmten Entdeckern und Erfindern stammend, will damit nonstop die Erde umfliegen. Nur sein Partner André Borschberg wird sich mit ihm im Einmann-Cockpit abwechseln. In ihrer Diskussion über Pioniergeist und den Umgang mit Ungewissheit entdeckten der CEO des internationalen Technologiekonzerns und der Initiator eines faszinierenden Technologieprojekts erstaunlich viele Gemeinsamkeiten, nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen Begeisterung für erneuerbare Energien, insbesondere für Solarenergie. Am Ende des offiziellen Gesprächs beschlossen beide, ihre Unterhaltung demnächst fortzusetzen – vorzugsweise, wie Piccard erklärte, „zwischen zwei und fünf Uhr morgens an jedem Tag dieser Woche“ – der Zeit, in der sich der Pionier während eines 72-stündigen Ausdauertrainings allein in seinem Flugsimulator befindet.

Ulrich Spiesshofer: Bertrand, du bist in einem außergewöhnlichen Umfeld aufgewachsen. Großvater und Vater berühmte Erfinder und Pioniere, denen nichts zu hoch oder zu tief war. Welchen Einfluss hat dieses Umfeld auf dich gehabt? Wie muss man sich die Tischgespräche im Hause Piccard vorstellen?

Bertrand Piccard: Meine ganze Kindheit hindurch hörte ich die Geschichten meines Vaters, meines Großvaters und all der Bekannten unserer Familie, die uns besuchten. Dazu gehörten Wernher von Braun, der mehrmals bei uns zu Gast war, Astronauten des amerikanischen Raumfahrtprogramms, Bergsteiger, Forscher, Umweltschützer und Filmemacher. Für mich war das Außergewöhnliche die Normalität. Ich erlebte während meiner gesamten Kindheit, wie interessant das Leben sein kann, wenn man sich von Gewissheiten, Dogmen und Paradigmen nicht beeinflussen lässt. Außergewöhnliche Persönlichkeiten waren für mich das Maß der Dinge, und wenn ich Menschen begegnete, die diesem Bild nicht entsprachen, erstaunte mich das als Kind immer sehr. Letztere schienen mir die Ausnahme von der Regel zu sein. Als ich später begriff, dass leider die meisten Menschen Angst vor dem Unbekannten, vor Veränderung und vor Ungewissheit haben, war das ein Schock für mich! Aber mit Unsicherheiten musst du als Chef eines Weltkonzerns wie ABB doch sicher auch täglich umgehen. Einen erfolgreichen CEO, der in der heutigen Welt Angst vor dem Ungewissen hat, kann ich mir nur schwer vorstellen.

Spiesshofer: Da hast du natürlich Recht – aber ich denke, das war schon immer so. Auch wer in der Vergangenheit ein großes Unternehmen führte und die Verantwortung für Tausende von Menschen und deren Familien trug, musste in der Lage sein, mit Ungewissheit zu leben. Allerdings hat sich die Qualität der Ungewissheit verändert. Heute gibt es praktisch keinen Sektor, in dem irgendetwas auf Dauer sicher ist, von Materialien und Technologien bis zur Stabilität der Weltwirtschaft und der Finanzsysteme. Jede gute Führungspersönlichkeit muss Unsicherheit als Teil ihres Alltags akzeptieren. Wir sollten uns davor nicht fürchten, sondern vielmehr die Verantwortung übernehmen, erfolgreich durch ein von Komplexität und Ungewissheit geprägtes Umfeld zu navigieren.

Piccard: Es mag ja schon für viele Menschen individuell nicht leicht sein, mit Unsicherheiten umzugehen, aber in einem großen Unternehmen eine Kultur zu schaffen, die damit proaktiv umgeht, ist sicher noch einmal eine besondere Herausforderung.

Spiesshofer: Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass zumindest Führungsverantwortliche keine Angst davor haben. Wenn man sich über seinen Kurs im Klaren ist und weiß, wohin man künftig will, dann verschwindet die Nervosität recht schnell. Zudem kommt es darauf an, seine langfristigen Ziele im Auge zu behalten – unabhängig davon, in welche Turbulenzen man unterwegs gerät. Viele Menschen reagieren doch auf Unsicherheiten eher emotional statt rational. Nehmen wir zum Beispiel Griechenland: Als die griechische Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch stand, geriet die ganze Welt in Panik. Dabei ist Griechenland, verglichen mit der gesamten Weltwirtschaft, winzig! Es war eine reflexartige, emotionale Reaktion. Bertrand, wenn du oben am Himmel in Turbulenzen oder in ein starkes Gewitter gerätst, wirst du deinen Flug vermutlich nicht einfach abbrechen, sondern die Instrumente in deinem Flugzeug entsprechend justieren.

Piccard: Ganz genau. Aber gerade in der Wirtschaft erleben wir doch immer wieder Manager, die sich gegen Veränderungen sperren, die zum Beispiel den Einfluss neuer Technologien so lange ignorieren, bis es zu spät ist und ihre Unternehmen am Ende untergehen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Sie sind einfach davon ausgegangen, dass ein einmal entwickeltes Erfolgsmodell für immer funktioniert – und haben darüber vernachlässigt, Ungewissheit zur Richtschnur ihres Führungsstils zu machen.

Spiesshofer: Das haben wir bei ABB ja selbst schmerzhaft erfahren. 2002 machte der Konzern seine eigene „Nahtoderfahrung“. Und es gab da jenen Tag, an dem das Unternehmen nur wenige Stunden von der Insolvenz entfernt war. Zuvor waren Grundregeln der Unternehmensführung vernachlässigt worden, die zu einer gravierenden Fehleinschätzung der Situation geführt hatten: Das Radar wurde nicht ordnungsgemäß überwacht, genau genommen war das Instrument an sich schon nicht gut genug. Man hatte Entscheidungen getroffen, ohne sich ausreichend mit deren Konsequenzen zu befassen. Man war Risiken eingegangen, unverhältnismäßig hohe Risiken, die das gesamte Unternehmen in Gefahr brachten. Heute haben wir das Problem, dass viele Mitarbeiter von dieser Erfahrung so tief im Mark erschüttert worden sind, dass sie überhaupt keine Risiken mehr eingehen. Diese Angst ist für ein Unternehmen sehr gefährlich.

Bei der Arbeit an einem Flügel: Das Solarflugzeug mit einer größeren Spannweite als ein Jumbojet erhält ein letztes Feintuning am Flugplatz Dübendorf in der Nähe von Zürich.
 

Piccard: Dabei eröffnen sich gerade in Zeiten des Umbruchs doch die größten Chancen! Ohne die Fähigkeit, Fragen und Zweifeln gegenüber offen zu sein, wird man nie etwas Neues erschaffen und sich immer innerhalb der altbekannten Grenzen bewegen. Bei Pionierarbeit – egal, in welchem Bereich – geht es aber darum, Grenzen zu verschieben.

Spiesshofer: Vielleicht liegt darin ja auch der Grund für unsere gemeinsame Begeisterung für die Solarenergie. Nach der anfänglichen Euphorie hat sich derzeit in diesem Sektor große Ernüchterung breit gemacht. Es stimmt ja, dass sich die Solarindustrie gerade in einer sehr schwierigen Situation befindet – viele Unternehmen sind in Konkurs gegangen und weitere werden folgen. Aber das ist nur eine Phase. Ich habe keinerlei Zweifel, dass die Solarenergie in 30 Jahren eine zentrale Rolle im globalen Energiemix spielen wird. Genau deshalb haben wir Power-One gekauft, den zweitgrößten Hersteller von Wechselrichtern für Solaranlagen weltweit – zu einem recht günstigen Preis, der drei Jahre zuvor so noch nicht realisierbar gewesen wäre. Kurzfristig werden wir dabei vermutlich starke Wertschwankungen erleben, doch langfristig werden wir in einer Schlüsselbranche führend sein. Nach herkömmlichen Management-Grundsätzen hätten wir uns auf dieses Geschäft eigentlich nicht einlassen dürfen. Aus strategischer Perspektive betrachtet kann es sich ein Großkonzern wie ABB mit einem Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro jedoch durchaus leisten, eine Dreiviertelmilliarde Euro in ein solches Vorhaben mit Zukunftspotenzial zu investieren.

„Jede gute Führungspersönlichkeit muss Unsicherheit als Teil ihres Alltags akzeptieren. Wir sollten uns davor nicht fürchten, sondern die Verantwortung übernehmen, erfolgreich durch ein von Ungewissheit geprägtes Umfeld zu navigieren.“ - Ulrich Spiesshofer

Gespräch am Flugsimulator des Solar Impulse: Die exakte Replik des Cockpits misst gerade einmal 3,8 Kubikmeter.

Piccard: Ich finde bemerkenswert, dass du bei ABB nicht nur in erneuerbare Energien investierst, sondern auch ganz stark in eine höhere Energieeffizienz. Die Kombination aus beiden ist entscheidend – und mir auch bei meinen Projekten ein zentrales Anliegen. Angesichts des derzeitigen Ausmaßes der Energieverschwendung werden wir nie in der Lage sein, genügend Energie aus Sonne, Wind, Biomasse, Erdwärme und Wasserkraft zu erzeugen. Wir müssen auch Energie sparen: Dafür brauchen wir effizientere Motoren, eine bessere Gebäudeisolierung und bessere Lösungen für den Energietransport.

Spiesshofer: Wir bei ABB haben es uns zur Aufgabe gemacht, wirtschaftliches Wachstum und Umweltbelastung zu entkoppeln, wir wollen erreichen, dass die Welt weniger Energie pro BIP-Einheit verbraucht und diese Energie aus erneuerbaren Ressourcen produziert. Dies ist, in wenigen Worten ausgedrückt, wofür wir stehen. Und wenn ich es richtig verstanden habe, willst du genau das auch mit deinen Projekten zeigen: Wir können auf diesem Planeten leben und arbeiten, ohne seine Ressourcen zu erschöpfen.

Piccard: Da ergänzen wir uns ja wirklich gut: Wir fügen mit unseren spektakulären Projekten genau jenen Schuss Hipness und Sexiness zu den neuen Technologien hinzu, dass Menschen Lust bekommen, sie zu nutzen. Und du entwickelst und verkaufst diese Technologien auf industrieller Ebene.

Spiesshofer: Um die Welt dahin zu bringen, wo du und ich sie vermutlich gerne hätten, müssen drei Faktoren zusammenkommen: Die Technologie muss verfügbar sein, sie muss ökologisch sein und sie muss sich rechnen. Des Weiteren muss auch die Politik eine Schlüsselfunktion einnehmen: Wir brauchen daher ein Umfeld mit schlüssigen regulatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, das Anreize für Investitionen in diese Technologie bietet. Und drittens sind Verhaltensfaktoren sehr wichtig, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene. Beide sind eng miteinander verknüpft. Individuelles Verhalten beruht ja nie nur auf kühler Ratio, sondern hat immer auch mit Emotionen zu tun. Du, Bertrand, erreichst sehr viele Menschen über die emotionale Ebene – was wiederum institutionelles Verhalten katalysieren und motivieren kann. Wir sollten überlegen, ob wir da nicht gemeinsam etwas in Bewegung setzen können.

Piccard: Weil es eben nicht nur um intelligente Technologie geht, sondern um menschliches Verhalten, ist meine Erfahrung als Psychiater sehr hilfreich. Im Team ergänzen sich ein Psychiater und ein Ingenieur hervorragend: Wir können die technische Lösung entwickeln und gleichzeitig die Menschen dazu anregen, diese zu nutzen. Verbote oder Belehrungen über die Wirkung unseres heutigen klimaschädlichen Verhaltens bewirken doch gar nichts. Niemand hat Spaß daran, wenn Umweltschutz langweilig und teuer daherkommt. Man muss die Menschen auf seine Seite bringen, sie für die neue Sache begeistern und belohnen. Wenn man jemanden dazu bringen will, sich für eine bessere Zukunft zu engagieren, dann braucht er dafür einen Anreiz – zum Beispiel derjenige mit dem schicksten Elektroauto zu sein oder der mit dem besten Niedrigenergie-Haus oder das Unternehmen, das die energiesparendste Technologie produziert und so für eine niedrigere Stromrechnung sorgt.

Spiesshofer: Ja, es geht darum, immer wieder Grenzen zu verschieben. Aber wie findest du persönlich dabei eine Balance, ohne zu weit zu gehen und am Ende zu scheitern?

Piccard: Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich eine Balance finden will, denn ich bin eigentlich nie mit dem zufrieden, was ich gerade bin oder habe. Ich will die Dinge immer noch ein bisschen besser machen. Dieser ständige innere Antrieb macht Pioniergeist im Kern aus. Bist du mit dem zufrieden, was du hast, dann schaust du nicht über den Tellerrand und überschreitest keine Grenzen. Ich träumte davon, in einem Ballon um die Welt zu fliegen. Nachdem ich das getan hatte, dachte ich auch schon über mein nächstes Projekt nach. Ich überlegte mir, noch einmal das Gleiche zu machen – aber ohne Treibstoff an Bord. So entstand die Idee für Solar Impulse. Ich bin sicher, dass ich mich auch nach Solar Impulse nicht zur Ruhe setzen werde. Es gibt noch so vieles zu tun. ABB ist natürlich ein etwas größeres Unterfangen als mein Hangar hier …

„Rückschläge stellen sich nachträglich oftmals als Glücksfälle heraus.“ - Bertrand Piccard

Spiesshofer: Das stimmt, aber das Prinzip ist ähnlich. Wenn man ein Unternehmen leitet, muss man eine gewisse gesunde Unruhe im Unternehmen aufrechterhalten. Es gilt, fortwährend Fragen zu stellen: Was geht gerade vor sich? Was könnte ich noch tun? Was könnte mich einholen? Was liegt vor mir? Welche Chancen bieten sich uns? Ohne diesen Pioniergeist gäbe es ABB nicht mehr. Innovationen sind unsere Existenzgrundlage. Nur wenn wir diese in vermarktbare Produkte umsetzen, können wir die Existenz der Menschen, die für uns arbeiten, sichern. Wir sind direkt und indirekt für eine halbe Million Menschen und Arbeitsplätze verantwortlich und dürfen deshalb für technologische Experimente nicht „Haus und Hof verwetten“, aber innerhalb unserer Organisation haben wir doch erheblichen Spielraum. Wir können uns in gewissem Umfang leisten, auch an wirklich Außergewöhnlichem zu arbeiten, ohne das System aus dem Gleichgewicht zu bringen – und wir tun das immer häufiger. So haben wir einen Venture-Capital-Fonds eingerichtet und in den letzten Jahren 150 Millionen Euro in Zukunftstechnologien investiert – darunter sind auch ein paar recht ausgefallene Ideen. Gleichzeitig stecken wir aber über eine Milliarde Euro pro Jahr in „klassische“ Forschung und Entwicklung.

Piccard: Wie schaffst du es, diesen ganzen großen Konzern mit diesem Geist der Unruhe zu beleben? Wie stellst du sicher, dass die Menschen nicht in ihrer Komfortzone verharren? Das interessiert mich – nicht nur als Psychiater!

Spiesshofer: Einer unserer Leitsätze ist es, keine Selbstgefälligkeit zuzulassen – gut mag nicht gut genug sein. Vor kurzem berichtete zum Beispiel einer unserer Manager stolz, er habe die Ausfallrate für ein bestimmtes hochkomplexes neues Produkt von 25 auf zwölf Prozent gesenkt. Würde er wohl in ein Flugzeug steigen, wenn es eine solche Ausfallrate hätte? Wir suchen externe Impulse und Benchmarks, um Veränderungen und Selbstkritik zu fördern. Gleichzeitig hüte ich mich, Menschen gewaltsam aus ihrer Komfortzone zu drängen. Es nützt uns nichts, wenn sie dann vor lauter Unsicherheit erstarren. Wir wollen nur sicherstellen, dass alle hinterfragen, was sie tun.

„Man muss sich ehrgeizige Ziele setzen und auch bereit sein zu scheitern. Wer mit einem möglichen Scheitern nicht umgehen kann, hat nicht das Zeug zum Führen.“ - Ulrich Spiesshofer

Im Grunde möchte ich erreichen, dass alle Mitarbeiter abends nach Hause gehen und sich eine einfache Frage stellen: Was habe ich heute bewirkt? Dabei spielt es keine Rolle, ob man Büros reinigt oder ein milliardenschweres Portfolio betreut, Raum für Verbesserungen gibt es immer und überall. Es macht Menschen meiner Meinung nach auch glücklicher und motivierter: Wer auf der Stelle tritt, ist in der Regel unzufrieden. Auf meinen Reisen versuche ich immer, mit Mitarbeitern aus allen Unternehmensbereichen ins Gespräch zu kommen. Kürzlich sah ich bei so einer Gelegenheit jemandem in einer unserer Fabriken bei seiner Tätigkeit einige Zeit zu und hatte den Eindruck, dass seine Arbeitsweise nicht sonderlich effizient war. Er gab mir Recht und machte einen Vorschlag, wie der Job besser erledigt werden könnte. Auf die Frage, warum er diese Änderung nicht schon früher vorgenommen hätte, antwortete er: „Es hat mich nie jemand gefragt.“ Das war für mich ein Schlüsselerlebnis: Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie einen aktiven Beitrag leisten können, dass ihre Ideen einen Wert haben und von ihren Vorgesetzten geschätzt werden.

Piccard: Bei unserer Solar Impulse stellen André Borschberg und ich sicher, dass jeder unserer Mitarbeiter weiß, warum er tut, was er tut. Da ich kein Ingenieur bin, kann ich zum Beispiel niemandem erläutern, wie man einen Elektromotor baut, aber ich kann beschreiben, warum ich den effizientesten Elektromotor brauche, den unsere Techniker entwickeln können, um fünf aufeinanderfolgende Tage und Nächte ganz ohne Treibstoff durchfliegen zu können, von einem Kontinent zum nächsten.

Spiesshofer: Ein gemeinsames Ziel ist entscheidend, um Leidenschaft zu wecken. In deinem Fall ist dieses Ziel der Flug rund um die Welt; für uns ist es „Power and Productivity for a Better World“.

Piccard: Aber es ist nicht immer einfach, die richtigen Partner für ein ausgefallenes Projekt zu finden und zu begeistern. Vielen fehlt es dafür an Vorstellungskraft. Für Solar Impulse brauchten wir die Expertise aus sehr unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Deshalb haben wir nun Mitarbeiter aus der Formel 1, aus dem Schiffbau und einige aus der Luftfahrt. Wir arbeiten beispielsweise mit der Werft zusammen, die die Rennyacht für Alinghi gebaut hat. Dort hatte man zwar vom Flugzeugbau keine Ahnung, wusste aber, wie man mit Kohlefaser arbeitet – die Kombination dieses Wissens mit dem Know-how unseres Teams hat zu fantastischen Ergebnissen geführt.

„Durch meinen Willen allein kann ich die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen. Doch die Grenzen, die wir in unseren Köpfen errichten und für real halten, die müssen wir durchbrechen.“ - Bertrand Piccard

Spiesshofer: In der Theorie wird wortreich beschrieben, wie Innovationsvermögen und Performance durch Diversity entscheidend verbessert werden können, wie eine Vielfalt in den Denkansätzen zu besseren Ergebnissen führt. In der Praxis zeigt sich allerdings oft, dass es schwierig ist, Vielfalt zu leben und sich entfalten zu lassen. Die Herausforderung liegt darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen wirklich auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.

Piccard: Das ist wirklich nicht einfach, selbst in unserem kleinen Team. Bei Solar Impulse haben wir das Problem durch die Einführung einer Doppelspitze gelöst. André Borschberg ist Ingenieur, ich bin Psychiater; er ist Kampfpilot, ich bin Entdecker. Gemeinsam decken wir ein sehr großes Spektrum an Fachwissen ab und verkörpern die Synergie, die wir auch im Rest des Teams erleben wollen.

Spiesshofer: In meiner Rolle als CEO eines Großkonzerns muss ich wie der Dirigent eines Orchesters agieren: Ich muss für ein harmonisches Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente sorgen, damit diese das richtige Musikstück für das richtige Publikum spielen. Mein Job besteht unter anderem darin, Teams für bestimmte Aufgaben zusammenzustellen. Wenn die Produktivität in bestimmten Abläufen verbessert werden soll, braucht es ein Team mit einer spezifischen Zusammensetzung. Eine andere Konstellation ist gefragt, wenn es etwa um die Fertigungsautomatisierung der nächsten Generation von Mobiltelefonen geht: Dafür haben wir einen Neurochirurgen mit Erfahrung in der Mikropositionierung von Werkzeugen an Bord geholt. Und seit kurzem unterstützen Versicherungsmathematiker unsere Ingenieure bei der Entwicklung einer Palette neuer Dienstleistungsprodukte. Die Kunst besteht darin, zu erfassen, welche Kompetenzen jedes Team braucht, um seine Aufgabe zu erfüllen, und dafür die richtigen Leute ins Boot zu holen – aber das funktioniert natürlich nicht immer.

Piccard: Wenn alles immer schon beim ersten Mal klappt und dir alle zustimmen, dann hast du deine Ziele nicht hoch genug gesteckt.

Spiesshofer: Natürlich, man muss sich ehrgeizige Ziele setzen und auch bereit sein zu scheitern. Wer mit einem möglichen Scheitern nicht umgehen kann, hat nicht das Zeug zum Führen. Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit ein Team damit beauftragt, ein elektronisches Produkt für den chinesischen Markt zu entwickeln, das nur halb so viel kosten sollte wie bisher. Anfänglich hieß es, das sei unmöglich. Aber ich war überzeugt, dass es eine Lösung gab, und glaubte an das Team. Also stellten wir der Gruppe mehr als 10 Millionen Euro für das Projekt zur Verfügung und tatsächlich – wir werden das neue Produkt nun auf den Markt bringen. Natürlich gab es auf dem Weg dahin auch kostspielige Rückschläge, aber letztlich war das Team erfolgreich, weil es gelang, ein vollkommen neues Design für dieses Produkt zu entwickeln. Mein Grundsatz lautet: Ich möchte ein Unternehmen schaffen, in dem Fehler erlaubt sind, in dem wir aus diesen Fehlern lernen – und voneinander. Eine Herausforderung bei ABB besteht darin, dass viele unserer Leute derzeit noch eine recht festgefahrene Vorstellung davon haben, was erlaubt ist und was nicht. Ich möchte diese Grenzen in der Risikobereitschaft mit Augenmaß verschieben.

Piccard: Rückschläge stellen sich nachträglich ja oftmals als Glücksfälle heraus. Siehe hier den Hauptholm der Solar Impulse, das große Teil in der Mitte des Flügels: Acht Monate und etwa 40 Personen waren notwendig, um ihn zu entwerfen und zu bauen, 64 Mal ging er in den Ofen, um die Polymere zu backen. Dann führten wir einen letzten Belastungstest durch und er brach, einfach so, mit einem lauten Krachen. Wir mussten die Weltumrundung um ein ganzes Jahr verschieben. War das ein Rückschlag? Das hängt von der Betrachtungsweise ab. Der Vorteil bestand darin, dass es für André und mich 2013 auf der operativen Seite nicht viel zu tun gab. Deshalb beschlossen wir, die Vereinigten Staaten zu überfliegen. Das erwies sich als bisher größter Erfolg für Solar Impulse! Wir bekamen breite Unterstützung, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hieß uns persönlich in New York willkommen. Es gab eine weltweite Medienresonanz, die den Weg für die Weltumrundung bereitete, und außerdem war es eine hervorragende Vorbereitung für unser Team.

„Wenn alles immer schon beim ersten Mal klappt und dir alle zustimmen, dann hast du deine Ziele nicht hoch genug gesteckt.“ - Bertrand Piccard

Spiesshofer: Hast du eine besondere Strategie für einen positiven Umgang mit Rückschlägen?

Piccard: Man muss absolut offen sein, dazu bereit, Chancen zu ergreifen, die sich bieten, und bei Fehlschlägen flexibel genug für eine Kursänderung. Mit 24 Jahren startete ich ein Unternehmen für Ultraleichtflugzeuge. Ich wollte in Touristenorten überall auf der Welt zweisitzige Ultraleichtflugzeuge mit Piloten stationieren, um Touristen auf Besichtigungstouren mitzunehmen. Es war ein kompletter Reinfall! Ich bekam die erforderlichen Genehmigungen nicht, und das Projekt hob nie wirklich ab. Ist das nun ein Rückschlag, ein Misserfolg? Ich für meinen Teil würde es als Erfahrung verbuchen.

Spiesshofer: Meine Jugend war nicht durch so aufregende Projekte gekennzeichnet wie deine, doch ich erinnere mich gerade an das Lieblingssprichwort meines Großvaters: „Und morgen geht wieder die Sonne auf.“ Wenn wir uns diese Lebenseinstellung zu eigen machen, weniger selbstherrlich und dafür selbstbewusster sind, dann können wir dem gesamten Konzept von Misserfolg und Erfolg viel entspannter gegenüberstehen. Obwohl es natürlich auch Grenzen gibt, die wir respektieren müssen.

Piccard: Ja, sicher! Ich kann ja nicht durch meinen Willen die Naturgesetze außer Kraft setzen. Ich kann nicht fliegen, indem ich einfach mit den Armen wedele. Doch die Grenzen, die wir in unseren Köpfen errichten und für real halten, die müssen wir durchbrechen. Selbst wenn man glaubt, etwas geht nicht, muss man es versuchen. Vielleicht gelingt es ja letztlich doch.

Solar Impulse im Testflug über San Francisco

Spiesshofer: Bei ABB haben wir zwei nicht verhandelbare Bedingungen. Bei der ersten geht es um Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeiter bei der Arbeit: Niemand darf in persönliche Gefahr kommen, um die Wünsche unserer Kunden zu erfüllen. Die zweite Bedingung ist ein integres, ethisches Verhalten sowohl intern als auch nach außen. Bei diesen beiden Aspekten mache ich keine Kompromisse. Wo ziehst du die Grenzen, Bertrand? Deine Projekte sind doch oft sehr riskant. Nimmst du in Kauf, dass du oder dein Partner sich verletzen oder gar tödlich verunglücken könnten?

Piccard: Darüber sprechen wir häufig. Bevor wir beispielsweise zur Weltumrundung im Ballon aufbrachen, diskutierten mein damaliger Partner Brian Jones und ich, welche Risiken wir in Kauf zu nehmen bereit wären. Wir entschieden, zu akzeptieren, uns ein Bein oder einen Arm zu brechen oder unter Kälte, Hitze oder Hunger zu leiden – das Risiko, uns das Rückgrat zu brechen und im Rollstuhl zu landen oder den Tod hingegen nicht. Wären wir also in ein schweres Gewitter geraten, selbst kurz vor der Ziellinie, dann hätten wir den Flug abgebrochen.

Spiesshofer: Das ist ein entscheidender Punkt. In unserem Fall ist es wichtig, dass unsere Mitarbeiter wissen, wo wir unsere Grenzen ziehen. So können sie sicher sein, dass sie nicht ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen, wenn sie für ABB arbeiten. Sie werden anständig behandelt und müssen das im Gegenzug auch mit anderen tun. Vieles andere ist diskutierbar, diese Dinge aber nicht.

Piccard: Es geht hier also weniger um Grenzen, als vielmehr um die klare Definition von Regeln für eine Zusammenarbeit und von akzeptablen und inakzeptablen Verhaltensweisen. Obwohl wir uns nun vor allem über Technologie und Unternehmensstrukturen unterhalten haben, geht es im Grunde doch auch um das Leben im Allgemeinen. Denn die Menschen stehen jeden Tag vor Herausforderungen und müssen Aufgaben erfüllen – ihre Kinder zur Schule schicken, Nahrung und Wasser beschaffen, lernen, einen Job bekommen, einen Lebenspartner finden. Alles Dinge, die genau die gleiche Geisteshaltung erfordern wie die Aufgaben, über die wir gesprochen haben – Grenzen verschieben, mit Unsicherheiten umgehen, Neues wagen. Deshalb ist Solar Impulse für mich auch nicht nur ein Technologieprojekt, es bringt mich wieder zu meiner Rolle als Psychiater zurück. Es kommen oft Leute zu uns, die sich bedanken wollen – dafür, dass wir sie inspiriert haben, ihnen Hoffnung gegeben und eine neue Art des Denkens aufgezeigt haben. Das ist für uns die beste Bestätigung, die wir uns vorstellen können.

Im Hangar von Solar Impulse auf dem Flughafen Dübendorf bei Zürich moderierten Gaëlle Boix, Egon Zehnder Genf, und Philippe Hertig, Egon Zehnder Zürich, das Gespräch zwischen Bertrand Piccard und Ulrich Spiesshofer.
 
 

Ulrich Spiesshofer

Jahrgang 1964, studierte in Stuttgart Betriebswirtschaftslehre und Ingenieurwissenschaften. 1991 promovierte er in Wirtschaftswissenschaften. Danach arbeitete er fast 15 Jahre lang für Beratungsfirmen, zunächst bei A. T. Kearney und später für Roland Berger. 2005 wurde er Vorstandsmitglied und Executive Vice President für Corporate Development bei ABB und war verantwortlich für Konzernstrategie, Mergers & Acquisitions, Operational Excellence und Supply Chain Management. Der Schweizer Technologiekonzern für Energie- und Automatisierungstechnik entstand 1988 durch die Fusion des schwedischen Unternehmens ASEA mit Brown, Boveri & Cie. (BBC) aus der Schweiz. In den frühen 2000er Jahren durchlief das Unternehmen eine sehr schwierige Phase. Heute hat die Gruppe einen Umsatz von rund 40 Milliarden US-Dollar und beschäftigt rund 150.000 Mitarbeiter in 100 Ländern. Neben der Entwicklung und Umsetzung der Unternehmensstrategie war Spiesshofer auch für die Formulierung der Akquisitionsstrategie der Gruppe und die Einführung eines Venture Fund für vielversprechende Technologieunternehmen verantwortlich. 2009 wurde Spiesshofer Leiter der Division Discrete Automation and Motion. Unter seiner Führung verdoppelte sich der Umsatz der Division bei gleichzeitiger deutlicher Verbesserung der operativen Marge, und er managte erfolgreich die Integration der US-Firma Baldor – die größte Akquisition in der Geschichte von ABB. Mit der Übernahme des US-Unternehmens Power-One hat sich ABB als einer der führenden Anbieter von Solarwechselrichtern etabliert. Am 15. September 2013 trat Spiesshofer die Nachfolge von Joe Hogan als CEO von ABB an. Neben seinen Aufgaben bei ABB dreht sich Spiesshofers Leben um seine Familie. Zusammen mit seiner Frau Natalie und den beiden Söhnen im Alter von zwölf und 15 Jahren lebt er in Zollikon am Zürichsee, wo Spiesshofer – als begeisterter Segler – seinem Hobby nachgeht. Er ist außerdem leidenschaftlicher Skifahrer und vielseitiger Hobbymusiker, der Klarinette, Saxophon und Akkordeon spielt.

Bertrand Piccard,

wurde 1958 in eine berühmte Familie hineingeboren: Sein Großvater Auguste Piccard stieg 1932 als erster Mensch mit einem Ballon in die Stratosphäre auf und sah die Erdkrümmung. Sein Vater, der Meeresforscher Jacques Piccard, erreichte als Erster den tiefsten Punkt des Pazifischen Ozeans und stellte einen Weltrekord auf, als er mit dem von seinem Vater entwickelten Tiefsee-Tauchboot „Trieste“ im Marianengraben bis auf 10.916 Meter unter dem Meeresspiegel tauchte. Mit 16 Jahren zählte Bertrand Piccard bereits zu den europäischen Pionieren des Drachen- und Ultraleichtflugs und begeisterte sich für alle Aspekte der Luftfahrt: Kunst- und Motorflug, Segeln im Hängegleiter und Fallschirmspringen. Piccard war Europameister im Kunstflug, hielt den Höhenweltrekord und lieferte mehrere andere „Weltpremieren“ – beispielsweise überflog er als Erster in einem Ultraleichtflugzeug die Alpen. 1999 gelang Bertrand Piccard zusammen mit Brian Jones die erste Nonstop-Weltumrundung in einem Heißluftballon. Ein Aspekt des Fliegens faszinierte ihn jedoch noch mehr als Rekorde und Abenteuer, und zwar das Studium des menschlichen Verhaltens und die verschiedenen Bewusstseinsebenen in Extremsituationen. Er studierte Medizin und Psychiatrie und arbeitete als Oberarzt am Universitätsspital Lausanne, bevor er eine eigene psychotherapeutische Praxis eröffnete. Ganz im Sinne der Familientradition, die wissenschaftliche Erforschung, Umweltschutz und die Suche nach einer besseren Lebensqualität verbindet, geht es bei Piccards aktuellem Projekt Solar Impulse mit seinem Partner André Borschberg um die Weltumrundung in einem solarbetriebenen Flugzeug. 2012 wurde Piccard von den Vereinten Nationen als „Champion of the Earth“ ausgezeichnet und wie folgt beschrieben: „Wenngleich auch ein Pionier, Forscher und Innovator, der außerhalb gängiger Gewissheiten und Stereotypen arbeitet, ist Dr. Piccard in erster Linie doch ein Visionär und ein Kommunikator: Als Initiator von Solar Impulse ist er verantwortlich für die Vorreiter-Philosophie des Projekts und dessen symbolische Reichweite, die Regierungen dazu bringen soll, eine viel ehrgeizigere Energiepolitik zu betreiben.“ Zusammen mit Brian Jones gründete Piccard die Stiftung „Winds of Hope“ zur Bekämpfung seltener Krankheiten wie zum Beispiel der Noma in Afrika. Piccard ist verheiratet, hat drei Töchter und lebt in der Nähe von Lausanne.

 

FOTOS: MATTHIAS ZIEGLER

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