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„Ein Wirtschaftsführer kann über die Welt, in der er sich bewegt, gar nicht genug wissen.“

Der Philosoph Ralf Konersmann über unser Leben in Zeiten grassierender Rastlosigkeit – Folge 2

  • November 2019

Wenn es jemanden gibt, der eine erfolgreiche Tiefenbohrung zum Phänomen der fortschreitenden Rastlosigkeit unternommen hat, dann ist es der Kieler Philosoph Ralf Konersmann. Gärende Unruhe, so Konersmann, sei zum alles vereinnahmenden Lebensprinzip der modernen Zeit geworden. Seine Bücher „Die Unruhe der Welt“ und „Wörterbuch der Unruhe“ sind Bestseller. Im Interview mit Egon Zehnder skizziert Konersmann den Sog der Beschleunigung in der von Disruption, Innovationsdruck und Wachstumsgläubigkeit geprägten Wirtschaft unserer Zeit – und denkt darüber nach, was man dem entgegensetzen könnte. In der zweiten und letzten Folge des Gesprächs entwickelt Konersmann das Ideal eines Wirtschaftsführers, der die gesamte Gesellschaft im Blick hat.

Egon Zehnder: Wäre es gerade für Wirtschaftsführer in unserer Zeit nicht geradezu eine Verpflichtung, sich jenseits der Hektik des Tagesgeschäfts immer wieder auch den Raum für Muße zu nehmen und ein Wissen zu erwerben, das ihnen hilft, ein Stückweit immun zu werden gegen den um sich greifenden Beschleunigungs-Hype? Und was für eine Art von Wissen könnte das sein?

Ralf Konersmann: Vielleicht hilft hier ein Rückgriff auf Max Weber und Schumpeter: Beide stimmen in dem Rat überein, die Wirtschaft nicht als ein separates System zu betrachten. Wer in der Wirtschaft erfolgreich sein möchte, sollte also nicht nur etwas von Wirtschaft verstehen, sondern die ganze Gesellschaft und Kultur im Blick haben. Schumpeter nennt die exakte, bloß rechnende Ökonomie eine „Ökonomie ohne Menschen“. Wenn er von „Kultur der Wirtschaft“ spricht, meint er damit nicht nur die Kultur der Arbeit, der Produktion und Distribution, sondern immer auch die Vernetzung der Wirtschaft mit externen Bezügen, ihre Interaktion mit den übrigen Akteuren der Gesellschaft. Sogar auf Cicero könnte man an dieser Stelle zu sprechen kommen. Sein Verständnis von Politik war ein ganz anderes als unser heutiges. Politik ist für ihn Praxis, Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit, und sie verlangt eine bestimmte innere Haltung, eine Charakterfestigkeit, eine selbstverständliche Verpflichtung auf das Gute – heute würden wir vielleicht sagen, auf das Wohl des Ganzen. Wer also gesellschaftlich handeln will, auch als Wirtschaftsführer, kann über die Welt, in der er sich bewegt, gar nicht genug wissen.

Egon Zehnder: Eines der fragwürdigen Verhaltensmuster, die sich unmittelbar aus der Unruhe entwickelt haben, ist ja die radikale Flexibilität, die von uns verlangt wird. Was könnte dem entgegenwirken?

Ralf Konersmann: Ich denke, dass die Überbetonung der Flexibilität völlig Acht acht lässt, dass es Traditionen und Routinen des Wissenserwerbs und der Anwendung von Wissen gibt. Diese Routinen haben ihre eigenen Rhythmen, die man nicht ohne weiteres außer Kraft setzen und beliebig beschleunigen kann. Wenn man auf diese Qualitäten setzt, anstatt immer mehr Flexibilität zu fordern, wird das ganz automatisch zu einer wohltuenden Verlangsamung und zu einer Stabilisierung führen. Durch die Konzentration auf eine Herausforderung, durch Handlungssicherheit und Ruhe würden wir der ziellosen Betriebsamkeit etwas entgegensetzen.

Egon Zehnder: Wir müssen also wieder lernen, Zukunft und Lebensgestaltung nicht automatisch mit Bildern der Unruhe zu assoziieren …

Ralf Konersmann: Genau. Diesen Zusammenhang müsste man aufbrechen, um von der eingelebten Vorstellung loszukommen, dass die Verbesserung der Lebensqualität automatisch mit tiefgreifenden Veränderungen einhergehen muss. Im Moment laufen wir Gefahr, uns mit Schlagworten wie Agilität, Digitalisierung oder Disruption, die völlig unkritisch gebraucht werden, abspeisen zu lassen. Im Grunde sind das alles Synonyme für Unruhe. Ich glaube, der erste Schritt muss sein, sich aus diesen Logiken, diesen Denkzwängen zu befreien.

Egon Zehnder: Dazu braucht es mit Sicherheit auch eine starke Persönlichkeit. Laufen wir Gefahr, dass unser Selbst verloren geht in all dieser Rhetorik, die Mobilität, Agilität und fortwährende Veränderung anpreist? Vergessen wir ein Stück weit, wer wir sind?

Ralf Konersmann: Zweifellos. Der französische Philosoph Michel Foucault prägte schon in den 70er Jahren den ungeheuren Satz: „Der Europäer weiß nicht, wer er ist.“ Genau das ist es. Wir externalisieren viele Probleme, an technische Systeme beispielsweise, wir begeben uns in die Logik der Apparate, des behördlichen Verwaltens, des strategischen Denkens, wir misstrauen der Verantwortung, der Kompetenz und Standfestigkeit des Einzelnen. Durch die Digitalisierung wird diese Tendenz ungeheuer verstärkt. Dem einzelnen Menschen werden bestimmte Verhaltensmuster vorgegeben – und die soll er nur noch umsetzen, ohne das Gesamtgeschehen zu stören. Macht er sich dann doch bemerkbar und ergreift die Initiative, läuft er Gefahr, als Störer wahrgenommen zu werden.

Egon Zehnder: Derzeit stehen wir auf vielen Feldern vor epochalen Herausforderungen: Klima, Flüchtlinge, Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Glauben Sie, dass unser Bemühen, all dies zu meistern, die Eigenverantwortung wieder befördert?

Ralf Konersmann: Da hege ich gewisse Zweifel. Die meisten dieser Diskurse sind Forderungsdiskurse. IHR müsst Euer Verhalten ändern, heißt es da oft. Man stellt sich hin, fordert Dinge, die andere gefälligst umsetzen sollen, und beklagt sich darüber, dass diese anderen nicht längst schon der Maxime entsprechend handeln, die man selber erkannt zu haben glaubt.

Egon Zehnder: Sie bleiben trotzdem Optimist?

Ralf Konersmann: Ja, auch wenn es jetzt, in der Stunde der Leidenschaft und des beschleunigten Unruhe-Hypes, vielleicht nicht so hoffnungsvoll aussieht. Aber auch das geht vorbei. Klagen und Jammern helfen jedenfalls nicht.

Egon Zehnder: Und was sagt die Philosophie? Wie zähmen wir die Unruhe?

Ralf Konersmann: Die einzige seriöse, dauerhaft verlässliche und zielführende Orientierung ist nun einmal die Vernunft, die Besonnenheit. Das vernünftige Maß hilft uns, die Unruhe der Leidenschaften – dazu gehören alle möglichen Formen des Eiferns und des Strebens – zu meiden und den Kurs des Lebens und Überlebens über die Zeit und ihre Veränderungen hinweg einzuhalten. Das ist die Antwort der Philosophie – seit mehr als 2000 Jahren.

Vita

Der Philosoph Ralf Konersmann (64) ist Professor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel und leitet es als Direktor. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Kulturphilosophie, Fragen der Kunst, des zeitgenössischen Denkens und der Bildung. In seinen Büchern „Die Unruhe der Welt“ und „Wörterbuch der Unruhe“ thematisiert Konersmann das Phänomen der zunehmenden Rastlosigkeit. Für das „Wörterbuch der Unruhe“ wurde er 2017 mit dem renommierten Tractatus-Preis ausgezeichnet. In seinem nächsten Buch (wieder im S. Fischer Verlag) schreibt er über Maß und Maßlosigkeit.

Themengebiete in diesem Artikel

Lesen Sie beide Folgen:

Folge 1 – „Unruhe kann Begeisterung freisetzen, aber auch zur Last werden.“

Folge 2 – „Ein Wirtschaftsführer kann über die Welt, in der er sich bewegt, gar nicht genug wissen.“

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