Wenn es jemanden gibt, der eine erfolgreiche Tiefenbohrung zum Phänomen der fortschreitenden Rastlosigkeit unternommen hat, dann ist es der Kieler Philosoph Ralf Konersmann. Gärende Unruhe, so Konersmann, sei zum konstituierenden Lebensprinzip der modernen Zeit geworden. Seine Bücher „Die Unruhe der Welt“ und „Wörterbuch der Unruhe“ sind Bestseller. Im Interview mit Egon Zehnder skizziert Konersmann den Sog der Beschleunigung in der von Disruption, Innovationsdruck und Wachstumsgläubigkeit geprägten Wirtschaft unserer Zeit – und denkt darüber nach, was man dem entgegensetzen könnte. In der ersten Folge des Gesprächs widmet sich Konersmann dem Janusgesicht der Unruhe.
Egon Zehnder: Unser modernes Leben scheint von einer zunehmenden Rastlosigkeit und Beschleunigung geprägt. Ist die Unruhe zum Fundament unserer Zivilisation geworden?
Ralf Konersmann: Auf dem Weg dorthin sind wir ganz sicher. Wir stecken im Trubel einer Welt, die uns niemals schlafen lässt und die auch selbst niemals schläft. Diese Verdichtung von Unruhe hat zwei Gesichter: einmal die Unruhe, die mit Neugier und enormen Erwartungen an Veränderung und Fortschritt verbunden ist, die in alle Lebensbereiche diffundiert und Begeisterung freisetzt, die eine lustvolle Freude ist und die wir keineswegs missen wollen. Auf der anderen Seite aber auch jene Unruhe, die zur Last, geradezu zur Plage wird.
Egon Zehnder: War das historisch schon immer so? Hatte die Unruhe immer zwei Gesichter?
Ralf Konersmann: Die Perzeption der Unruhe beginnt, zumindest aus jüdisch-christlicher Sicht, mit dem göttlichen Fluch: Die Menschen werden in der Person von Kain, der seinen Bruder Abel ermordet hat, von Gott aus der Ursprungswelt vertrieben. „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein“, heißt es im Buch Genesis. Das Land, in dem Kain sich nach der Vertreibung niederlässt, ist das Land Nod. Das ist das hebräische Wort für Unrast und Rastlosigkeit. Die Unruhe ist also Strafe und Fluch. Erst zu Beginn der Neuzeit gerät die tugendhafte Seite der Unruhe in den Blick. Das hat sehr viel mit der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften zu tun. Wir sind unruhig, weil wir etwas wissen wollen. Forschung ist unruhige Suche nach neuem Wissen.
Egon Zehnder: Inzwischen ist es ja so, dass der Unruhestifter als Inbegriff des schöpferischen Menschen gilt, sei es der Künstler oder der unternehmerisch tätige Mensch.
Ralf Konersmann: Diese Umdeutung des Unruhestifters wäre in älteren Zeiten nahezu undenkbar gewesen. Da wurden Autoritäten geschätzt, die für Kontinuität, Stabilität und Sicherheit sorgten. Man sieht hier, dass schon der Begriff des Unruhestifters die ganze Ambivalenz des Themas Unruhe widerspiegelt. Ein Unruhestifter kann jemand sein, der verkrustete Verhältnisse aufbricht, der die Menschen aufrüttelt und ihre Fantasie beflügelt. Es kann aber auch der Aufrührer sein, der Hasardeur, der leichtfertig die intakte Ordnung aufs Spiel setzt oder sogar zerstört.
Egon Zehnder: Bleiben wir noch einen Moment bei dieser Janusköpfigkeit der Unruhe. Schumpeter hat ja den Begriff der schöpferischen Zerstörung geprägt. Schon in dieser berühmten Formulierung spürt man, dass die Unruhe auch eine dunkle Seite hat – nämlich wenn sie zur Rastlosigkeit verkommt.
Ralf Konersmann: Natürlich, aber zunächst mal ist Schumpeters Unternehmer ein Mensch der fantasievollen Initiative, ein Mensch mit Weitblick und Leidenschaft für die Sache. Das ist im Übrigen eine ganz auffällige und erstaunliche Parallele zwischen dem Idealbild des Künstlers und dem des Wirtschaftsführers. Gefährlich wird es allerdings, wenn die Unruhe ihr Maß verliert, wenn sie vom Mittel zum Zweck wird, aus sinnhaften Bezügen heraustritt und alle mit sich reißt, ohne dass wir wüssten, wohin die Reise geht. Dann ist der Punkt erreicht, an dem die Unruhe um ihrer selbst willen gesucht und gepriesen wird, die Veränderung um der Veränderung willen, der Fortschritt um des Fortschritts willen, das Wachstum um des Wachstums willen.
Egon Zehnder: Das heißt, zur Unruhe, die das Maß nicht verlieren soll, gehört stets ein Ziel dazu, eine Art sinnhafter Horizont?
Ralf Konersmann: Nicht nur ein Ziel. Der Unruhe muss ein hemmendes Prinzip zur Seite stehen, weil die Sache sonst völlig ins Gleiten kommt und ziellos auseinanderläuft. Die Unruhe benötigt, wenn sie nicht zur Plage werden soll, eine Hemmung, ein Innehalten, einen Vorbehalt, der gleichsam der Raum der Reflexion ist, der Nachdenklichkeit, des Zögerns und der Zurückhaltung.
Egon Zehnder: Und wenn Sie auf die Wirtschaft schauen – sehen Sie uns in einen Sog der Beschleunigung hereingeraten?
Ralf Konersmann: Die Gefahr besteht – vor allem, weil wir dazu neigen, das hemmende Prinzip zu schwächen und Gegenpole zur Unruhe abzubauen, indem wir beispielsweise Feiertage abschaffen oder sonstige Dinge und Traditionen, die der fortschreitenden Dynamik im Weg stehen, als Blockaden diskriminieren und jene Menschen, die das hemmende Prinzip hochhalten, als Bremser bezeichnen. All dies führt dazu, dass wir, ohne dass irgendjemand es zum Programm erhoben hätte, immer weiter in die Unruhe hineingeraten und die Balancen verlorengehen. Das scheint mir der eigentliche Kern der Beschleunigung zu sein, die wir gegenwärtig erleben: nicht dass wir es gewollt hätten, sondern dass wir es zugelassen haben.
Egon Zehnder: Wie könnte man denn dem hemmenden Prinzip, wie Sie es nennen, wieder Raum verschaffen?
Ralf Konersmann: Es gibt durchaus Ansätze, auf die man zurückgreifen kann. Die Traditionen der Ruhe beispielsweise, die die westliche Kultur ja auch bereitgestellt hat, die allerdings von der Unruhekultur immer wieder diffamiert und unter Verdacht gestellt worden sind.
Egon Zehnder: Welche Traditionen wären das?
Ralf Konersmann: Als Erstes fällt einem vielleicht die Stoa ein, die ja unter anderem die sprichwörtlich gewordene stoische Ruhe empfiehlt und das Ideal eines Menschen zeichnet, der durch Unerschütterlichkeit und Seelenruhe nach Weisheit strebt. Aber denken Sie auch an die mystische Idee der Gelassenheit, die von der Amtskirche als Häresie verdammt wurde, oder an die amerikanischen Randgruppen, die vor fast 100 Jahren die Coolness kreiert haben. Wer cool ist, lässt sich nicht von den Umständen antreiben, sondern zeigt im Trubel der Zeiten Haltung.
Egon Zehnder: Was ist diesen Ansätzen – mit Blick auf die Unruhe – gemeinsam?
Ralf Konersmann: Sie raten einmütig dazu, sich vor Ideologien und vor einfachen Lösungen in Acht zu nehmen und empfehlen, ein stabiles Selbst auszubilden, das in den Stürmen des Lebens Bestand hat, und sich – auch das ist wichtig – dabei gleichwohl nicht übermäßig wichtig zu nehmen. Das scheint mir doch ein tragfähiger Ratschlag über den Moment hinaus zu sein.
„Ein Wirtschaftsführer kann über die Welt, in der er sich bewegt, gar nicht genug wissen.“
Vita
Der Philosoph Ralf Konersmann (64) ist Professor am Philosophischen Seminar der Universität Kiel und leitet es als Direktor. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Kulturphilosophie, Fragen der Kunst, des zeitgenössischen Denkens und der Bildung. In seinen Büchern „Die Unruhe der Welt“ und „Wörterbuch der Unruhe“ thematisiert Konersmann das Phänomen der zunehmenden Rastlosigkeit. Für das „Wörterbuch der Unruhe“ wurde er 2017 mit dem renommierten Tractatus-Preis ausgezeichnet. In seinem nächsten Buch (wieder im S. Fischer Verlag) schreibt er über Maß und Maßlosigkeit.
Themengebiete in diesem Artikel
Lesen Sie beide Folgen:
Folge 1 – „Unruhe kann Begeisterung freisetzen, aber auch zur Last werden.“
Folge 2 – „Ein Wirtschaftsführer kann über die Welt, in der er sich bewegt, gar nicht genug wissen.“