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Im Gespräch mit Ed Schein

»Lasst uns einander kennenlernen!«

  • Juli 2019

Ed Schein empfängt uns in seinem Privathaus in Palo Alto, Kalifornien, wo er wenige Tage zuvor seinen 91. Geburtstag feierte. Der 1928 in der Schweiz geborene und 1938 als Kind in die USA emigrierte Sozialwissenschaftler gilt als einer der geistigen Väter der Organisationspsychologie. Seine bahnbrechenden Ideen für die moderne Prozessberatung entwickelte Schein als Praktiker in der Unternehmensberatung und als Professor am MIT in Cambridge. Im Gespräch mit Egon Zehnder fordert er einen Umsturz der alten – unflexiblen – Führungskultur, welche die heutigen Probleme nicht mehr lösen kann: Der heldenhafte Leader hat ausgedient, die Zukunft gehört einem kollektiven Führungsstil. Den Schlüssel dazu sieht er im »Persönlichmachen« von Arbeitsbeziehungen – das Ziel ist eine zeitgerechte »professionelle Nähe«.

In einer immer komplexeren Welt wissen Führungskräfte einfach nicht genug, um alleine zu entscheiden, was neu und besser ist. Führung ist deshalb ein Gruppensport und keine individuelle heroische Aktivität.

Egon Zehnder: Herr Professor Schein, wir leben in einer komplexen Welt. Mit welchen Widerständen kämpfen Führungskräfte, die ihre Organisation verändern wollen?

Ed Schein: Darauf gibt es keine kurze Antwort, aus gutem Grund: Es gibt keine klare Definition, was Leadership eigentlich ist. Und das führt uns ins Zentrum des Problems. Man könnte zur Antwort natürlich auf Personen verweisen, die zu Präsidenten oder CEOs gesalbt wurden – denn diese sollen ja Führungspersönlichkeiten sein. Für mich bedeutet Leadership aber etwas anderes: Es geht um das Streben nach Neuem und Besserem. Wenn ich sagen würde, wir würden ein besseres Interview machen, wenn wir jetzt hier bei mir in Palo Alto in einen anderen Raum gingen, dann wäre das Leadership.

Egon Zehnder: Also beginnt alles mit einer Idee?

Ed Schein: Das größte Hemmnis für Menschen in Führungspositionen ist, dass sie nicht wirklich wissen, was sie neu und besser machen wollen. Manchmal fehlt eine klare Vorstellung. Oder ihre Sichtweise, was neu und besser wäre, basiert nicht auf Tests mit Kollegen und direkten Erfahrungen, sondern erweist sich als überhaupt nicht umsetzbar. Der Grund liegt auf der Hand: In einer immer komplexeren Welt wissen Führungskräfte einfach nicht genug, um alleine zu entscheiden, was neu und besser ist. Führung ist deshalb ein Gruppensport und keine individuelle heroische Aktivität.

Egon Zehnder: Wie schaffen es erfolgreiche Führungspersönlichkeiten, ihr Umfeld auf eine Suche nach Neuem und Besserem mitzunehmen?

Ed Schein: Vielen CEOs fällt es schwer, ihre Leute um Rat zu bitten. Sie meinen, sie müssten alles selbst erledigen und der tollste Held sein – weil das von ihnen erwartet wird. Im Gegensatz dazu gibt es vorurteilsfreie Führungspersönlichkeiten, die die Dinge wirklich verbessern wollen, die persönlich Verantwortung dafür übernehmen, denen aber auch klar vor Augen steht, wie abhängig sie sind von vielen anderen Menschen, Strukturen und Prozessen. Verantwortlich zu sein bedeutet für sie nicht, dass sie alles selbst tun müssen. Sie haben stattdessen verstanden, dass sie das Neue und Bessere nicht ohne die Unterstützung anderer implementieren können. Nehmen Sie Gary Kaplan, der die Unternehmenskultur in einem Krankenhaus in Seattle verändert hat. Er hat seine Top-Führungskräfte mit nach Japan genommen und gesagt: »Schaut euch hier um, gibt es etwas, das wir für unser Krankenhaus lernen können?« Das war vorurteilsfrei. Denn er wusste zwar, dass er seine Klinik umkrempeln musste, aber er wusste nicht genau wie. Andererseits war Gary aber auch ziemlich bestimmend, weil er allein entschieden hat, dass alle mit nach Japan müssen. Er hat also einerseits den Prozess gemanagt, bei der Entwicklung der Idee für seine Klinik in Seattle aber an der Basis begonnen.

Ein anderes Beispiel ist Captain David Marquet von der U.S Navy, dem man ein neues U-Boot anvertraut hatte, auf dem die Moral der Besatzung ziemlich am Boden lag. Ihm wurde bald klar, dass nur die Oberbootsmänner die Sache richten konnten. Also rief er sie alle zusammen und fragte: »Seid ihr zufrieden damit, wie das Schiff läuft?« Die Unteroffiziere waren ziemlich verblüfft, schließlich war er ja der Kapitän. Sie fragten sich: »Was will der von uns, sechs Dienstränge unter seinem?« Marquet saß einfach nur da und sagte: »Ich will von euch wissen, was ihr verbessern würdet, denn ihr seid diejenigen, die das Schiff in Wahrheit führen. «Ein schönes Beispiel ist auch Lee Kuan Yew, der erste Ministerpräsident von Singapur. Wie kam es zum »Wunder von Singapur«? Natürlich hatte Lee eine Vision von neu und besser, aber in der Praxis ging er vorurteilsfrei vor. Er formte ein Team um sich herum und hörte dann auf diese Menschen. So rief er einen Rat für Wirtschaftsentwicklung ins Leben, der forderte: »Wir müssen Singapur sauberer machen.« Lee sorgte dann für Gesetze, die den Stadtstaat zu einem angenehmen Ort machten, an dem Geschäftsleute gerne arbeiteten. Lee konnte also beides sein: ein Autokrat und eine clevere Führungspersönlichkeit. Er hat verstanden, dass er Unterstützer braucht, um seine Vision von neu und besser umzusetzen. Er konnte ein politischer Alleinherrscher sein, aber bei der Entfaltung seiner Führungsrolle begab er sich vollständig in die Hände der hellsten und talentiertesten Köpfe Singapurs.

In allen drei Beispielen liegt der Unterschied zu vielen »Helden-CEOs« darin, dass die drei Führungspersönlichkeiten wagemutig genug waren, um zu sagen: »Einen Augenblick! Ich bin zwar der CEO, aber ich bekomme das alleine nicht hin und brauche Hilfe. Ich muss auf andere hören. Ich muss von anderen, die mehr davon verstehen, lernen, wie diese Sache funktioniert.«

Egon Zehnder: Was muss man lernen – oder verlernen –, um Platz für »Co-Creation« zu schaffen?

Ed Schein: Unser Wirtschaftsmodell wurde von den westlichen Ländern hervorgebracht, insbesondere von den USA. Wir bewegen uns seit Taylor und seit der Erfindung des Fließbandes im Rahmen einer bestimmten Managementkultur. Diese hat einen Typus von Leadership hervorgebracht, der vor allem um Richtungsvorgaben kreist. In der neuen Wirtschaftswelt von heute ist diese Managementkultur vollständig obsolet geworden. Wir stecken deshalb von Anfang an in Schwierigkeiten, wenn wir mit diesem Modell loslegen. Stattdessen würde ich als Berater einen CEO fragen: »Was bereitet Ihnen Sorgen? Welche Probleme haben Sie?« Er würde mir wohl antworten: »Nun, ich muss dem Unternehmen eine Richtung aufzeigen.« Ich würde ihn fragen: »Warum?« Seine Antwort: »Weil meine Leute nicht engagiert genug sind.« Daraufhin würde ich vielleicht sagen: »Aha, Sie haben also Probleme wegen der Einstellung Ihrer Mitarbeiter. Was genau meinen Sie mit Engagement?« Seine Antwort: »Wir haben zu viele Unfälle, weil die Leute einfach nicht genug aufpassen, und das in einem Hightechunternehmen.« Ich würde nachfragen: »Was waren das für Unfälle?« Seine Antwort darauf könnte lauten: »Vergangenes Jahr sind bei einer Explosion in einer unserer Fabriken sechs Mitarbeiter gestorben. «So könnte das Gespräch noch eine ganze Weile weitergehen. Tatsächlich muss man viel miteinander sprechen, bevor sich die Richtung abzeichnet. Vielleicht muss er vorgeben, ein Sicherheitsprogramm aufzulegen oder ein Karriereprogramm. Aber das bekommt man nur heraus, wenn man sich zuerst die Frage stellt: »Was ist er für ein Mensch, und was muss er tun?« Und dann als zweiter Schritt: »Wie könnte er das besser machen?« Nur so kann er seine Führungsqualität entwickeln. Der CEO muss diese Fragen im Hier und Jetzt beantworten: »Was läuft falsch? Was besorgt mich? Was macht die Konkurrenz?« Es geht hier also auch um echte Bodenhaftung. Und es gibt auch nicht auf jede Frage eine Antwort. Der CEO in dem Beispiel wird außerdem viele Menschen zu Rate ziehen und sie etwa fragen müssen, warum es zur Explosion kam, bevor er weiß, was er ändern muss.

Egon Zehnder: Sie beschreiben einen neuen Typus von Führungspersönlichkeit.

Ed Schein: Ja, wir haben wirklich monströse Vorstellungen davon, was Leadership bedeutet, alle basierend auf diesen veralteten Ansichten. Wir brauchen ein völlig neues Modell dafür, was die Aufgabe eines Leaders ist, was Leadership ist – und wir müssen dieses Denken von Kommando und Kontrolle über Bord werfen. Abgesehen davon neigen wir dazu, Leadership über- und Management unterzubewerten. Gibt es denn etwa keinen Raum dafür, dass manche Dinge so bleiben, wie sie sind? Wir wollen zum Beispiel, dass der Zug auch in Zukunft pünktlich kommt – dafür brauchen wir aber Manager und keine Leader. Wir sollten beides wertschätzen: Manager, die die Dinge am Laufen halten, und Führungspersönlichkeiten, die besessen sind vom Fortschritt.

Wir sollten beides wertschätzen: Manager, die die Dinge am Laufen halten, und Führungspersönlichkeiten, die besessen sind vom Fortschritt.

Egon Zehnder: Die Führungspersönlichkeit, über die Sie sprechen, muss sich als Person zeigen. Warum sind Menschen häufig so besorgt, wenn sie verletzlich erscheinen?

Ed Schein: Ein Grund für diese Sorge liegt darin, dass die Gesellschaft sagt: »Du hast das Kommando. Wenn du die Antwort nicht weißt, machst du keinen guten Job.« Natürlich sorgt das für Ängste: »Sie werden herausfinden, dass ich es wirklich nicht weiß, und dann feuern sie mich.« Aber diese Vorstellung, dass es der Leader wissen muss, ist eine individualistische und sehr amerikanische Idee. Und ich vermute, dass diese Idee von vielen anderen Gesellschaften unpassenderweise aufgegriffen wurde, weil die USA bei der Industrialisierung in der Tat viel erreicht haben.

Andererseits war ich ziemlich beeindruckt, als ich in den späten 1970er Jahren Berater bei Shell, Ciba-Geigy und anderen europäischen Unternehmen war. Diese wurden von einem Board geführt. Es gab zwar einen Managing Director, aber bei Ciba-Geigy zum Beispiel haben elf Vorstände wirklich zusammengearbeitet. Und alle hatten das gesamte Geschäft im Blick und waren gemeinsam dafür verantwortlich. Aber wenn man in den USA heute von »Gesamtverantwortung« spricht, bekommt man sofort zu hören: »Oh nein! Man braucht eine einheitliche Verantwortlichkeit!«  

Egon Zehnder: Diese Haltung lässt sich nur schwer durchbrechen.

Ed Schein: Das stimmt. Und meine Sorge wächst, dass wir ein Modell geschaffen haben, dem aufgeweckte Leute immer weniger Glauben schenken. Möglicherweise liegt es an meinem europäischen Hintergrund – auch wenn es nur zehn Jahre sind –, aber ich meine, ich kann die Pathologie in unserer Managementkultur besser erkennen als viele Manager, die blind dafür sind, dass eine Kultur von Kommando und Kontrolle und alleiniger Verantwortung ernste Probleme auslöst. Und diese Manager spielen ihr Spiel mit dir. Denn wenn du ihnen sagst, »Man kann das auch anders machen«, beauftragen sie dich nicht, weil sie in Wahrheit nur wollen, dass du ihr Modell bestätigst.

Egon Zehnder: Was muss also geschehen, damit es zu Veränderungen kommt?

Ed Schein: Ich möchte dies mit Hilfe eines Modells von gesellschaftlichen Beziehungen beantworten. Ein Problem der alten Managementkultur ist, dass sie auf einem transaktionalen Konzept fußt, wie Menschen zueinander in Beziehung stehen sollten: Du hast deine Rolle, ich habe meine Rolle. Deshalb bewahren wir einen geräumigen Abstand zueinander. Denn wenn wir uns zu nahe kommen, tue ich dir einen Gefallen, und das könnte dann unangenehm werden. Also sollten wir besser in unseren Rollen verharren. Wenn wir uns aber die Beispiele von Gary Kaplan, Lee Kuan Yew und anderen ansehen, wird klar, dass die heutigen Probleme auf dieser Basis nicht gelöst werden können. Stattdessen müssen wir uns kennenlernen: Wir müssen auf einem direkteren Weg herausfinden, wie wir beide arbeiten, weil die Aufgabe eine enge Kooperation erfordert. Man sieht das etwa in der heutigen Medizin: Die Operation funktioniert nicht, wenn der Chirurg Distanz zur Oberschwester hält. Sie sollten sich also gut kennen.

Der Weg weg von einem rollenbasierten Sozialmodell zu engeren Beziehungen führt über das »Persönlichmachen«: Man lernt einander im Arbeitsumfeld kennen. Das ist der erste Schritt. Ein Manager sagt sich: »Ich muss meine Leute besser kennenlernen. Also spreche ich sie etwas persönlicher an.« Mein Schwiegersohn zum Beispiel ist Arzt und lädt seine Krankenschwestern und Medizintechniker zum Mittagessen ein. So entsteht eine neue Art von Beziehung. Das nennen wir dann eine »Level-2-Beziehung« oder auch »professionelle Nähe«. Wenn die Führungsperson nicht erkennt, dass sie auf diese Art von Beziehungen angewiesen ist, um etwas zu bewegen, dann wird nichts passieren. Stattdessen wird sie lamentieren: »Die Bürokratie hat mich schon wieder ausgehebelt.« Dabei stärkt sie selbst die Bürokratie dadurch, dass sie auf Distanz bleibt. Der Knackpunkt ist also: Wir kommen wir einander näher? Das ist gar nicht so schwer. Stellen Sie ein paar einfache Fragen: Wo wohnen Sie? Wie gefällt es Ihnen hier? So machen wir unsere Beziehung persönlich. Aber nicht dadurch, dass Sie mir mehr von Ihrer Arbeit erzählen. Anschließend ist es einfacher zusammenzuarbeiten, denn wenn ich Sie dann frage, wie es in Ihrem Arbeitsbereich wirklich läuft, sagen Sie mir die Wahrheit. Wenn ich aber auf Distanz bleibe, denken Sie: »Ich frage mich, was Ed hören will. Ich sage ihm lieber etwas, das ihm gefällt.« Im Ergebnis arbeite ich mit blinden Flecken. Die wichtigste Antwort auf die Frage, was wir anders machen müssen, lautet also: persönliche Beziehungen aufbauen.

Egon Zehnder: Warum wehren sich so viele Führungskräfte dagegen?

Ed Schein: Ganz einfach: Weil wir glauben, dass Nähe Günstlingswirtschaft bedeutet. Und wir haben tausend Ängste, dass Nähe unsere ach so wunderschöne, bürokratische und von unserem Job definierte Welt stört. Und in der Tat: Diese Nähe wird uns dazwischenkommen. Aber das ist genau das, was wir brauchen, weil sich die Arbeit geändert hat! Denn wir bauen heute keine simplen Fließbänder mehr. Stattdessen kämpfen wir mit komplexen Problemen, die sich nicht leicht lösen lassen. Die Natur der Arbeit erzwingt andere Beziehungen. Wenn ein Manager sich fragt, »Warum kann ich nicht einfach so weitermachen wie bisher?«, dann weil der Kontext sich geändert hat – er würde scheitern.

Es kommt noch etwas hinzu: Häufig werden Menschen dafür bestraft, dass sie die Wahrheit sagen und nicht die erwartete »richtige« Antwort geben. Ich habe ein Energieunternehmen beraten, in dem die Elektriker aufgefordert wurden, einen Prozess zu stoppen, wenn es aus ihrer Sicht nicht sicher war weiterzumachen. Die Elektriker erzählten mir, dass es die Abteilungsleiter allerdings nicht gerne sähen, wenn sie auf die Stopptaste drückten, weil sie dann viel Papierkram hätten. Denn die Zentrale wollte jedes Mal den genauen Grund für die Unterbrechung erfahren, damit sie die Elektriker anweisen konnte, wo Wartungsarbeiten erledigt werden mussten. Eigentlich eine ganz gesunde Logik. Das Problem war nur, dass weder das mittlere Management noch die Abteilungsleiter diese zusätzliche Arbeit erledigen wollten. Also sagten sie zu den Elektrikern: »Hört auf, ständig die Arbeit zu unterbrechen. Oder seid ihr Feiglinge?« Damit haben sie ihr eigenes Programm untergraben.

Egon Zehnder: Wie können Führungskräfte für ein Klima der psychologischen Sicherheit sorgen, in dem sich die Mitarbeiter trauen, die Wahrheit zu sagen?   

Ed Schein: Der Schlüssel heißt auch hier »Persönlichmachen«. Wenn ich will, dass Sie sich sicher fühlen, muss ich zunächst für eine vertraute Professionalität zwischen uns sorgen. Ich kann nicht einfach wie in einer berühmten Karikatur sagen: »Sag mir genau, was du über mich denkst, selbst wenn das heißt, dass ich dich entlasse!« Aber genauso handeln viele Chefs. Die Basis von allem ist also der Aufbau von Beziehungen. Solche »Level-2-Beziehungen« entstehen mit der Zeit, wenn die Angestellten die Erfahrung machen, dass der Chef sich freut, wenn er von Problemen erfährt, und nicht auf den Überbringer der Botschaft schießt. Psychologisch gesehen braucht es für eine solche Sicherheit Offenheit – und man muss die tatsächliche Erfahrung machen; die Vermutung alleine reicht nicht aus. Aber wie soll das klappen, wenn ein CEO das nicht versteht oder ein Abteilungsleiter oder wenn ein Manager der autokratische Boss sein will? Wie soll man zu einem solchen Manager durchdringen, der meint, dass »Manager sein« bedeutet, den anderen sagen zu müssen, was sie zu tun haben?

Der Weg weg von einem rollenbasierten Sozialmodell zu engeren Beziehungen führt über das ›Persönlichmachen‹: Man lernt einander im Arbeitsumfeld kennen.

Egon Zehnder: Wie können Führungskräfte lernen, eine Brücke zwischen Professionalität und engeren Beziehungen zu bauen?

Ed Schein: Ich kann darauf nur mit Beispielen antworten, denn es gibt kein eigentliches Rezept. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu Ken Olsen, dem Gründer von Digital Equipment (DEC). Ich hatte 30 Jahre lang mit ihm zu tun, und das hat ganz unscheinbar angefangen. Als ich ein junger Berater war, wollte er mich testen und hat mich in sein Büro gebeten. Olsen war ein echter Naturbursche, überall an den Wänden standen Kanupaddel und dergleichen. Ich fragte ihn also danach, und er erzählte mir stolz von seinen Sommerausflügen in den kanadischen Bergen. Wir haben nicht ein Wort über die Arbeit gesprochen, aber er hat mich als Berater engagiert. Der entscheidende Faktor war wohl, dass ich den Eindruck vermittelt habe, mich wirklich für seine Kanus zu interessieren. Das war auch kein vorsätzlicher Trick von mir, sondern das war einfach so. Die professionellen Begriffe dafür sind wohl: ein Bedürfnis erkennen, Neugier, Mitgefühl. Aber es gibt kein Rezept für »Persönlichmachen«.

Noch eines ist mir wichtig: Wir sollten nicht mehr von »Führungspersönlichkeiten« (»Leaders«) sprechen. Es gibt CEOs, CHROs oder Leiter einer Business-Unit. Wir sollten dieses Wort »Führungspersönlichkeiten« nicht benutzen, außer es handelt sich um eine Person, die wirklich führt. Es gibt CEOs, die das tatsächlich tun, und manche, die das nicht tun. Aber in dem Moment, in dem wir anfangen, das Wort »Leaders« für alle CEOs zu gebrauchen, werden wir in unserer Kommunikation ungenau. Das ist ein besonders gravierendes Problem in der Geschäftswelt. Wir mögen dieses Wort und verwenden es unterschiedslos. Gar keinen Sinn macht diese Bezeichnung in den Künsten, vor allem in Film und Theater. Es gibt Produzenten, Regisseure, Trainer, Schauspieler – und alle waren in einem besonderen Moment Leaders.

Wir sollten dieses Wort ›Führungspersönlichkeiten‹ nicht benutzen, außer es handelt sich um eine Person, die wirklich führt.

Egon Zehnder: Aber alle verfolgen denselben »Purpose«?

Ed Schein: Der Begriff »Purpose« und sein Konzept kommen aus der Psychologie. Ich habe festgestellt, dass das meiste, was aus der Psychologie kommt, in der menschlichen Arena ziemlich nutzlos ist. Ich bin selbst Psychologe, also darf ich das sagen. Die Psychologen haben nie verstanden, dass jede innere Motivation auf die Sozialisation in einer Kultur, Gruppe oder in einem Stamm zurückgeht. Und auf diese Stammesregeln kommt es an. Der »Purpose«, die Zielsetzung, ist wichtig, wenn mein Stamm sagt, dass ich dies oder jenes tun soll. Denn wenn ich es nicht mache, wird mir das sofort signalisiert. Ich betrachte den Einzelnen als das Ergebnis vieler Ebenen der Sozialisation und des Lernens von den Gruppen, zu denen er oder sie gehört hat. Unsere stärksten Motivationen und Persönlichkeitsmerkmale sind das Ergebnis unserer Gruppenerfahrungen, angefangen bei der Familie.

In meinen früheren Forschungsinterviews habe ich herausgefunden, dass es mindestens acht verschiedene Berufungen – oder »Karriereanker« – gibt, warum Menschen ihren Berufsweg verfolgen. Die einen wollen die Besten in irgendetwas sein, die anderen Industriekapitäne, andere wollen raus aus der Bürokratie und werden Lehrer oder Berater. Für Menschen, die in den Beruf einsteigen, ist es wichtig, das herauszufinden: Ich kann mehrere Ziele haben, aber was würde ich nicht aufgeben? Was ist der »Anker«, der mich wirklich hält? Für Menschen wie Sie und ich ist dieser tief verwurzelte Wert wahrscheinlich Autonomie. Der Grund, warum wir in unser Gebiet gegangen sind – warum ich Professor bin – ist, dass es uns die Freiheit gibt zu sein, was wir sein müssen. Es ist nützlich für Sie und für mich, unseren Anker zu kennen. Hilft es zu sagen, ein Leader sollte einen Anker haben? Das macht keinen Sinn, es sei denn Sie definieren, was Führung ist und von welcher Absicht Sie sprechen. Jeder hat Aufgaben. Aber wenn ich mich entscheide, Umweltschützer zu werden und dieser Aufgabe mein Leben verschreibe, weil es für mich nur Sinn ergibt, wenn meine Arbeit hilft, dieses größere Problem zu lösen, dann ist das eindeutig der »Serviceanker«. Und jemand, der Geld verdienen will, hat einen anderen Anker. Beide arbeiten mit »Purpose«, aber bis man erkennen kann, was sie wirklich tun, hat das für mich keine große Bedeutung.

Man hat alle Kulturen in sich, die man in der Erziehung erlebt hat. Ich habe ein wenig einen Schweizer in mir, ein wenig die Sowjetunion, viel Deutsches und dann am meisten die USA. Über jedes der Länder, in denen ich gelebt habe, sind Werte festgelegt worden, die noch immer Teil von mir sind. In diesem Sinne sind Sie und ich multikulturelle Einheiten. Es könnte wichtig sein zu wissen, wie wir die Welt mit unseren multikulturellen Fähigkeiten und Besonderheiten betrachten. Lassen wir also das ganze psychologische Zeug fallen und konzentrieren uns mehr auf Kultur: Ethnografie, Stämme, Gruppen – also darauf, wie die Dinge wirklich funktionieren. Und da findet Führung statt, in der Gruppe. Wenn der Chirurg in Schwierigkeiten gerät, und die Krankenschwester reicht ihm das richtige Instrument, nach dem er gar nicht gefragt hat, dann hat dieser Moment von »Leadership« einem Patienten möglicherweise das Leben gerettet, auch wenn wir dies vielleicht nicht so nennen.

Egon Zehnder: Können Sie etwas über die Verantwortung von Beratungsunternehmen – und ihren Klienten – sagen?

Ed Schein: Ihre Rolle ist enorm. Sie müssen den Klienten helfen, ihre Probleme zu lösen, anstatt ihnen nur Lösungen aufzuzeigen. Und das bedeutet häufig, sich zurückzuziehen und zu sagen: »Wir können dir nicht helfen, geh zu jemand anderem.« Ich denke an Ken Olsen, den CEO von DEC. Er bestand darauf, dass seine Ingenieure die Probleme des Kunden lösten. Auch wenn das bedeutete, dass sie keine DEC-Produkte verkauften, durften sie den Kunden unter keinen Umständen anlügen. Anstatt zu sagen, »Ich kann Ihnen etwas Besseres verkaufen«, sagten die Ingenieure zum Kunden: »Finden Sie heraus, was Ihr Problem ist, und kaufen Sie die Ausrüstung einer anderen Firma, wenn das die Lösung ist.«

Für alle in der Beraterbranche ist es ein ziemliches Problem, auf dem Laufenden zu bleiben, was der Kunde wirklich braucht und will. Denn auch der Kunde wurde durch das monetäre Modell einer Gehirnwäsche unterzogen. So weiß er etwa, dass ihm ein bestimmter Berater ein Projekt X liefern würde. Und jetzt geht er zu Ihnen und will wissen, wie Sie sich von der Konkurrenz unterscheiden. Sie versuchen, eine Beziehung aufzubauen, und er fragt sich: »Warum stellt der mir all diese Fragen? Wo ist sein PowerPoint-Deck?« Wenn man zu viele Fragen stellt, werden Kunden ungeduldig. Also habe ich sie manchmal intuitiv konfrontiert: »Sie arbeiten am falschen Problem.« Manchmal funktionierte das viel besser, denn die Kunden schätzen Ehrlichkeit. Aber man muss sich der Situation bewusst sein und eine Beziehung haben. Alle Berater sollten eine Beziehung zu demjenigen aufbauen, der ihnen gegenübersitzt. Werden Sie persönlich. Was hält Sie davon ab? Worüber machen Sie sich Sorgen?

Egon Zehnder: Wie gelingt es Beratern, ein agendaloses Gespräch ohne Fokus auf ein »Produkt« zu führen?

Ed Schein: Vielleicht müssen wir sogar das Konzept der Beratung ändern und erkennen, dass das Wort »helfen« passender sein könnte – denn »Beratung« bedeutet bereits, dass man mehr weiß und etwas liefert. Aber Kunden brauchen Hilfe, und die kann ganz unterschiedlich aussehen. Hilfe kann in der Bereitstellung einer Expertenlösung liegen oder darin, nur zu reflektieren, ein Spiegel zu sein. Hilfe kann aber auch der harte athletische Trainer sein, der dich lediglich trainiert. In jedem einzelnen Fall muss die Unterstützung aber auf dem vom Kunden formulierten Bedürfnis aufsetzen. Die grundlegende Form der Hilfe ist also, den Klienten dabei zu unterstützen herauszufinden, was genau sein Problem ist. Und das bedeutet, dass der Berater vorurteilslos sein und zunächst eine Beziehung zu seinem Klienten aufbauen muss, bevor er diesem etwas vorschlägt oder verkauft.

Ein weiteres Problem der Beratungsbranche ist, wie man von der stundenweisen Abrechnung wegkommt. Ich habe kürzlich eine üble Geschichte gehört. Eine Juniorberaterin in einem großen Beratungsunternehmen fragte ihren Chef, einen Juniorpartner, ob sie um 18.00 Uhr oder 18.30 Uhr nach Hause gehen könne. Sie arbeiteten daran, eine Bank zu reformieren, um neue Bilanzskandale zu verhindern. Ihr Chef antwortete ihr: »Nein, du kannst nicht nach Hause gehen, weil die nächsten zwei Stunden abrechenbar sind.« Sie lernte also, dass Berater – während sie daran arbeiten, die Mängel in der Bank abzustellen – diese Bank ihrerseits betrügen. Der springende Punkt ist, dass ihr Chef in einem Belohnungssystem steckte, das auf abrechenbaren Stunden basiert. Ich weiß nicht, wie man das beheben kann, weil alles monetarisiert wird. Dabei ist es nicht so, dass der einzelne Berater etwas falsch macht, indem er ein Produkt liefert. Er ist nur Teil eines Systems und hält das Geschäft am Laufen.

Egon Zehnder: Wie entsteht eine Beziehung zwischen Berater und Klient?

Ed Schein: Eine Beziehung besteht, wenn ich mehr oder weniger gut Ihre Reaktionen auf Ereignisse vorhersagen kann. Aufgebaut wird diese Beziehung durch gegenseitige Neugier, durch Fragen, durch aufmerksames Zuhören – also in einem schrittweisen Prozess des Kennenlernens. Wenn ich eine Beziehung zu Ihnen aufzubauen möchte, könnte ich versuchen, mehr darüber zu erfahren, wie Sie arbeiten. Ich könnte herausfinden, was Ihr Unternehmen ausmacht. Ich könnte weitere Geschichten über mich erzählen. Und irgendwann würden wir uns in einer persönlicheren Beziehung wiederfinden. Mir fällt es schwer, eine solche Beziehung zu definieren – außer dass ich sage, ich habe das Gefühl, mein Gegenüber besser zu kennen. Wenn wir eine Beziehung aufbauen, beginnt ein automatischer Prozess, zumindest auf einer Ebene, auf der wir zusammenarbeiten können. Wir haben dann eher ein persönliches Wissen als ein Rollenwissen. Wir finden ein gemeinsames Interesse, oder vielleicht erzähle ich eine Geschichte, die Ihnen plötzlich einen neuen Einblick gibt. Oder Sie erzählen mir etwas, das mir plötzlich einen neuen Einblick gibt. Das ist nicht unbedingt geplant. Aber durch das Geschichtenerzählen entstehen neue Perspektiven. Vielleicht ist das Erzählen von Geschichten der Schlüssel, denn – psychologisch gesehen – muss ich mich mit Ihnen identifizieren können. Wenn ich die Fähigkeit entwickle vorauszusehen, was Sie tun werden, heißt das, dass ich Sie so oft reden gehört habe, dass ich ein Gefühl dafür habe, wohin Sie unterwegs sind.

Egon Zehnder: Das erfordert viel Zeit oder?

Ed Schein: Es erfordert Interaktion, aber nicht unbedingt viel Zeit. Am wichtigsten sind Neugier und gegenseitiges Zuhören. Ich habe immer die Erfahrung gemacht, dass diese Art von Beziehung die Investition wert ist, weil wir auf diesem Weg schneller zu einer gemeinsamen Lösung gelangen.

Egon Zehnder: Herr Schein, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Kurzbiografie

Edgar H. Schein ist einer der geistigen Väter der Organisationsentwicklung. Er ist Professor emeritus des Massachusetts Institute of Technology. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind hervorzugeben »Organizational Culture and Leadership«, »Karriereanker«, »Humble Inquiry« und »Humble Consulting«. Sein letztes Buch, »Humble Leadership«, veröffentlichte er zusammen mit seinem Sohn Peter A. Schein. Die beiden Autoren plädieren darin für ein neues Nachdenken über Leadership, das auf Beziehungen, Offenheit und Vertrauen aufbaut. Ed und Peter beraten größere Konzerne in den USA und weltweit. Ein Interview mit Peter Schein, der lange Jahre für renommierte Unternehmen im Silicon Valley gearbeitet hat, findet sich auf unserer Website. Außerdem ist jüngst das Buch »Edgar H. Schein: The Spirit of Inquiry« erschienen (innsbruck university press), in dem sich namhafte Weggefährten mit seinem Werk auseinandersetzen.

Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Robert Rieger

 

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