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Im Gespräch mit Navid Kermani

»Ich habe viele Heimaten.«

  • Mai 2019

Der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani bezieht leidenschaftlich Stellung zu den gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit – pointiert und unbequem, aber stets bereit zu einem Dialog, der Brücken schlägt. Im Gespräch mit Egon Zehnder dringt Kermani auf eine Neubegründung der europäischen Idee von Frieden und Freiheit und weist auf die ökonomische Ungleichheit als »die eigentliche Bruchstelle in den modernen Gesellschaften«. Migranten aus Krisenregionen könnten heute einen wichtigen Beitrag leisten. In der Integrationsdebatte kritisiert Kermani, »hohles Gleichheitsgeschwafel« ersetze echte Toleranz nicht, denn diese gründe auf einem revolutionären Geist.

Egon Zehnder: Populismus, Brexit, ökonomische und soziale Ungleichgewichte: Europa scheint immer weiter auseinanderzudriften. Was steht auf dem Spiel?

Navid Kermani: Europa ist kein Territorium, sondern eine Idee. Europa hat in der Aufklärung den Gleichheitsgedanken der monotheistischen Religionen säkularisiert und in ein Gemeinwesen transformiert. Wir teilen die gleichen Werte. Aber das bedeutet nicht, dass wir alle gleich werden sollen. Im Gegenteil: Anders als die Vereinigten Staaten, die auf ähnlichen Werten beruhen, hat Europa seine spezifische Identität gerade darin, dass es die regionalen, sprachlichen, kulturellen und nationalen Unterschiede bewahrt und sogar fördert.

Egon Zehnder: Die Nationalstaaten hingegen ...

Navid Kermani: ... waren vielmehr der Versuch, aus vielfältigen Völkergemischen einheitliche Staatsvölker zu machen. Deshalb waren auch im 19. Jahrhundert schon die Minderheiten, etwa Juden, entschiedene Befürworter des europäischen Projekts – sie gingen in den Nationalstaaten nicht auf.

Egon Zehnder: Europa und seine Nationalstaaten – beides scheint nicht mehr richtig ineinanderzugreifen. Brauchen wir eine neue europäische Vision?

Navid Kermani: Ja, ich glaube das ganz bestimmt. Sobald man aber dieses Wort in den Mund nimmt, wird gesagt: Um Gottes Willen, keine Visionen!  Doch ohne tiefergehende Idee wird die europäische Einigung auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung in den Nationalstaaten reduziert. Wenn dann die Bilanz nicht stimmt, etwa in ländlichen Regionen Englands oder Frankreichs oder in Südeuropa, wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, dass der Nutzen auch da ist, dann bleibt halt von der EU nicht mehr viel übrig. Pathos alleine reicht aber auch nicht aus. Denken Sie an Stefan Zweigs Werben für ein geistig geeintes Europa, das er 1932 als sein »Evangelium« bezeichnete. Erst nach dem Krieg fand dann beides zusammen: das Pragmatische und das Visionäre. Das war das Erfolgsrezept der europäischen Einigung.


 

Die Zivilgesellschaft braucht ein gewisses Maß an ökonomischer Durchlässigkeit, auch an Gleichheit, jedenfalls an Chancengleichheit.

Egon Zehnder: Wie kommen wir – auch gedanklich – zu einer neuen europäischen Dynamik?

Navid Kermani: Unserer Generation fehlt die biografische Erfahrung, dass Europa etwas Existenzielles ist. Wir haben diese Erinnerung nicht, weil unserer Generation die Kriegserfahrung fehlt. Vielleicht kehrt in der jüngeren Generation gerade etwas von dieser Dringlichkeit zurück, etwa beim Umweltschutz oder bei der Reisefreiheit, wenn unsere Kinder und Enkel merken, die EU bricht aus nationalistischen Gründen weg. Dabei bedeutet Nationalismus ja nicht nur, dass man ausländerfeindlich ist. Es geht hier um eine ganze Latte von anderen Wertvorstellungen: Homophobie, das Frauenbild, das Leugnen des Klimawandels.  

Egon Zehnder: Sie haben iranische Eltern und sind in einem Deutschland aufgewachsen, das sich mit Europa verbunden hat. Wie würden Sie Ihre Identität beschreiben?

Navid Kermani: Natürlich habe ich, wie die meisten Menschen, gleichzeitig verschiedene Identitäten, viele Heimaten – als Kölner, als Deutscher, als Iraner. Europäer ist jeder, der die europäischen Werte teilt, ganz gleich, ob er in Siegen oder in Istanbul lebt oder aufgewachsen ist. Deutscher zu werden, war lange Zeit um einiges schwieriger. Noch zu meiner Jugendzeit in den achtziger Jahren kam das Wort »Einwanderungsland« nicht vor, und in den großen Städten gab es Klassen für Ausländerkinder. Das war nicht böse oder abwertend gemeint, aber es war so. Mein Vater war Arzt, meine Eltern waren willkommen; aber man dachte, sie würden eines Tages auch wieder gehen. Sie selbst dachten das auch.

Egon Zehnder: Unter welchen Bedingungen gelingt Integration?

Navid Kermani: Es ist ja zunächst unglaublich, wie viel bereits gelungen ist. Innerhalb einer einzigen Generation hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung um mehr als ein Drittel geändert, und das weitgehend gewaltfrei – oder sogar um mehr als die Hälfte, nimmt man die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs hinzu. Das versteht sich keineswegs von selbst, man muss sich nur in der Welt umschauen, wo sich solche gewaltigen demografischen Veränderungen vollzogen haben – kaum irgendwo so friedlich wie in Deutschland seit dem Krieg. In den letzten Jahren hat man zunehmend verstanden, dass diese Menschen die Möglichkeit haben müssen, gleichberechtigt am politischen und ökonomischen Leben teilzuhaben. Und dass sie mit allem, was sie sind, teilhaben sollen, also mit ihrer ganzen kulturellen Identität.

Egon Zehnder: Man muss seine Herkunft nicht verleugnen, um in Deutschland anzukommen.

Navid Kermani: Man sollte von niemandem verlangen, sich von seinen Wurzeln, Erfahrungen, seiner Heimat oder seinem Dialekt zu lösen. Ohne diese Liebe zu den persönlichen Eigenheiten gibt es keine Nächstenliebe. Das ist übrigens etwas, das auch bestimmte Linke nicht verstehen, die alles Deutsche abschaffen wollen. Eine noch größere Vielfalt hat ja schon einmal in Europa existiert, vor den beiden Weltkriegen, und im Grunde geht es darum, sie wiederzugewinnen. Der bedeutendste Schriftsteller deutscher Sprache des zwanzigsten Jahrhunderts, Franz Kafka, war kein Deutscher. Ihn hat mit Deutschland als Nation überhaupt nichts verbunden: Er lebte als Jude in einer tschechischen zweisprachigen Stadt, die zu Österreich-Ungarn gehörte. Zweisprachigkeit ist kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme, besonders in den Städten. Und heute: Schauen Sie sich eine beliebige Schulklasse an. Die jungen Leute haben Väter und Mütter aus vielen unterschiedlichen Ländern. Sie fragen nicht mehr: Haben wir eine gemeinsame Abstammung? Sie sind auch nicht durch irgendwelche deutschen Werte verbunden – welche sollten das auch sein? Gemeint sind damit immer die europäischen Werte der Aufklärung, die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Egon Zehnder: Und wenn es Konflikte gibt?

Navid Kermani: Verschiedenheit erzeugt natürlich Konflikte. Es kommt aber darauf an, die Probleme in Worte zu fassen und zu reden. Noch einmal: Es ist bei allen Problemen bis hin zu NSU und Silvesternacht 2015 aufs Ganze gesehen immer noch erstaunlich, wie gut das in Deutschland gelungen ist, im Unterschied etwa zu Frankreich, wo die Vorstädte öfter brennen oder die Bevölkerung in den vernachlässigten Regionen den Aufstand probt.

Egon Zehnder: Integration durch Teilhabe funktioniert im nationalen Rahmen, gleichzeitig aber ermüdet das europäische Projekt.

Navid Kermani: Ja, das Pathos, die Tiefe, die Vehemenz gehen verloren. Europa war immer auch eine Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Noch die 68er waren indirekt geprägt vom Krieg, den ihre Eltern geführt und erlitten hatten. Dieses Bewusstsein ist bei den Führungskräften in den Hochschulen, der Wirtschaft, der Politik kaum noch zu finden, sondern vielleicht sogar eher bei Einwanderern, deren Herkunftsländer in Kriege verwickelt sind. Wenn Einwanderer etwas Besonderes zur Kultur Europas beitragen können, dann ist es dieses Gefühl für den Wert von Frieden und Freiheit. Viele von ihnen haben am eigenen Leib erfahren, was Unfreiheit bedeutet, was Krieg bedeutet.

Egon Zehnder: Nicht nur der europäische Geist, auch die Strukturen der EU scheinen zu schwächeln.

Navid Kermani: Wir erkennen heute besser die Geburtsfehler. Wir haben Märkte zusammengeführt, aber nicht die Institutionen, die diese Märkte hätten regeln können. Die Finanzkrise war nicht der Beginn, sondern sie war das erste Phänomen der europäischen Krise, gefolgt vom Brexit. Das größte Problem ist: Die Politiker sind nur ihren jeweiligen nationalen Wählern gegenüber verantwortlich. Aber sie machen Politik für alle Europäer. Viele Menschen empfinden es als Entmündigung, wenn die deutsche Bundeskanzlerin oder der französische Präsident während der Finanzkrise faktisch mehr Macht hatten über ihr Leben als die eigene gewählte Regierung – und ihre Entscheidungen auch noch oft in bilateralen Vorgesprächen treffen statt in den vorgesehenen Gremien, die aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips oft nicht einmal beschlussfähig sind. Europas Entscheidungen müssen viel stärker demokratisch legitimiert und transparent sein.

Ein hohles Gleichheitsgeschwafel überdeckt die ökonomischen Brüche, die ja nach wie vor existieren.

Wir trafen Navid Kermani am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo er von 2000 bis 2003 Long-term Fellow war. Viele seiner Werke sind hier entstanden, und wann immer er in Berlin ist, arbeitet er in den Räumlichkeiten des 1981 gegründeten interdisziplinären Forschungsinstituts.

Egon Zehnder: Warum werden die europäischen Institutionen nicht beherzt gestärkt?

Navid Kermani: Das ist eine entscheidende Frage. Macron hat es ja versucht, zum ersten Mal seit langem haben wir wieder einen visionären pro-europäischen Politiker. Es tut schon weh zu beobachten, dass Deutschland diesen französischen Aufbruch im Keim erstickt hat. Das Mindeste, was dieser Präsident verdient hätte, wäre eine Antwort gewesen. Es gibt sie bis heute nicht wirklich. Und das ist nicht allein eine Schuld der Regierung, es ist auch eine Schuld der deutschen Öffentlichkeit, der Intellektuellen, eine Schuld von uns allen. Wir haben diese Chance verpasst – und wir werden uns noch wundern, wer Macron nachfolgen wird.

Egon Zehnder: Was spricht für einen neuen europäischen Aufbruch im 21. Jahrhundert?

Navid Kermani: Alle großen Krisen der letzten Zeit hätten von einer gemeinsamen europäischen Politik verhindert oder wenigstens besser gesteuert werden können. Wir hätten nicht nur die Finanzkrise, sondern auch die Flüchtlingskrise von 2015 besser bewältigen oder sogar abwenden können. Wir hätten auch von Beginn an zur Befriedung der Konflikte in Syrien, im Irak und andernorts beitragen können. Nichts davon ist geschehen, im Gegenteil: Jedes Land hat seine eigene Politik verfolgt. Schon zu Beginn des Arabischen Frühlings war das so: Sarkozy schickte dem tunesischen Diktator Waffen, während man Westerwelle auf dem Tahrir-Platz in Kairo bei den Demonstranten sah. In der Folge sind die Konflikte explodiert, Chaos in Libyen, Chaos in Syrien, die Christen wurden vertrieben, die Jesiden wurden vertrieben, der IS bekam Raum, Terror, Flüchtlinge, Rechtsradikalismus bei uns zuhause. Die sogenannte Realpolitik führt ein ums andere Mal zu realen Katastrophen, auch für einen selbst.

Egon Zehnder: Viele Menschen fragen sich, ob es heute noch wirkliche Führungspersonen gibt, Leute mit klaren Wertvorstellungen und einem klaren Ziel.

Navid Kermani: Ohne Visionen gibt es keine Politik, übrigens auch nicht ohne das Pathos, das eine Vision braucht. Es ist auch falsch zu glauben, unsere Politiker seien alle verkommene, korrupte Charaktere, die nur an ihrem Sitz kleben. Das Gegenteil ist der Fall. Das sind hoch reflektierte Leute, die sich Gedanken machen. Sie alle wissen, es muss sich etwas Grundlegendes ändern. Aber das übersetzt sich so gut wie nie in praktische Politik.

Egon Zehnder: Warum ist das so?

Navid Kermani: Die Bedingungen politischen Handelns haben sich geändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben visionäre Politiker das Grundgesetz formuliert, die Römischen Verträge beschlossen, die Todesstrafe abgeschafft. All das wäre, hätte man es zur Abstimmung gestellt, mit deutlichen Mehrheiten abgelehnt worden. Ebenso die Westbindung, die Gleichheit der Geschlechter, die deutsch-französische Freundschaft. Heute sind das alles Selbstverständlichkeiten. Diese Politiker haben Entscheidungen getroffen und auch treffen müssen, deren Legitimation erst nachträglich eintrat, durch den Erfolg und die Tragfähigkeit ihrer Entscheidungen. Ein zentraler Unterschied zu heute liegt darin, dass damals die Politiker noch nicht auf Schritt und Tritt beobachtet wurden. Es gab nicht ständig eine Umfrage, nicht ständig ein Interview, nicht ständig einen Trend auf Twitter. Heute dagegen wird jede Handlung, jeder Schnupfen sofort kommentiert von einer medial bestens ausgestatteten Öffentlichkeit. Wir haben, wenn man so will, eine permanente Volksabstimmung. Das führt zu einer Kurzlebigkeit politischen Denkens. Man kann es sich gar nicht mehr leisten, nicht immer auf das Volk zu schauen und in Ruhe zu überlegen: Was brauchen wir in zwanzig Jahren?


 

Es gibt kaum mehr die Zeit, um ein Problem in seiner ganzen Tiefe zu durchdringen – die Macht des Täglichen ist zu groß geworden. Man müsste vermutlich zur Entschleunigung raten.

Egon Zehnder: Ruhe ist nicht nur in der Politik Mangelware.

Navid Kermani: Sicher leidet die Politik auch unter dem enormen Tempo, mit dem heute sehr komplizierte Entscheidungen getroffen werden müssen. Denken Sie an die Finanzkrise 2008 – ich war damals geradezu dankbar, als Schäuble zugab, dass er auch nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Es gibt kaum mehr die Zeit, um ein Problem in seiner ganzen Tiefe zu durchdringen – die Macht des Täglichen ist zu groß geworden. Man müsste vermutlich zur Entschleunigung raten. Vielleicht sollte man Politikern vorschreiben und ihre Dienstpläne so ausrichten, dass sie sich viel mehr Auszeiten nehmen, regelmäßig ein Buch lesen, ins Konzert gehen, durch eine Stadt streifen oder die Natur erleben. Auch wenn es damit natürlich nicht getan wäre – ich glaube schon, dass der Abstand von der Politik ihnen helfen würde, eine bessere Politik zu machen. Aber klar, das sind jetzt nur Einfälle, Gedankenspiele, ein Rezept habe ich auch nicht.

Egon Zehnder: Welche Verantwortung trägt die Wirtschaft für Europa?

Navid Kermani: Ich will in diesem Zusammenhang auf ein Phänomen aufmerksam machen, das nicht politisch, sondern durch den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt verursacht ist. Überall sehen wir blühende Städte und verödende Landstriche, in der EU genauso wie in Georgien oder in Weißrussland. Während man früher über den Unterschied zwischen Paris und London sprach, spricht man heute von Paris und der Normandie. Der Protest der Gelbwesten und auch der Brexit sind Reaktionen auf die Vernachlässigung ganzer Landstriche.

Egon Zehnder: Wir beobachten auch eine Empörungswelle gegen die Wirtschaftselite.

Navid Kermani: Ja, aber diese Empörung richtet sich nicht gegen ihre Bezahlung an sich. Sie richtet sich eher gegen schlechte Manager, die nicht zur Verantwortung gezogen werden und die von sich aus keine Verantwortung übernehmen. Wenn, wie beim Dieselskandal, Milliarden verschleudert werden, wenn betrogen und gelogen wird, ohne dass jemand dafür geradestehen muss, dann führt das zu einem Legitimationsverlust für das ganze System. Dasselbe gilt für große, weltweit operierende Konzerne, die sich dem Fiskus entziehen.

Egon Zehnder: Sie sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Navid Kermani: Genau. Wir sollten auch nicht vergessen, dass der wirtschaftliche Erfolg Europas, und vor allem auch der Bundesrepublik, wesentlich der Idee des sozialen Ausgleichs zu verdanken ist. Diese Idee ist die ökonomische Ausprägung des Gleichheitsgedankens. Wenn also die Wirtschaft den ökonomischen Erfolg absolut setzt, wenn sie – um das böse Wort einmal zu verwenden – neoliberal wird, dann geht das an den Kern der europäischen Identität. Die eigentliche Bruchstelle in den modernen Gesellschaften ist immer eine ökonomische. Wenn die Jugend keine Chancen hat, wenn Menschen auf dem Lande sich abgehängt fühlen, dann haben sie nicht mehr teil am Ganzen.

Egon Zehnder: Beim Thema Migration kamen viele Wortmeldungen aus der Wirtschaft.

Navid Kermani: Diversität, Toleranz und Vielfalt werden heute von der Wirtschaft rauf und runter gebetet. Dabei geht es aber zumeist nicht um Ethos, sondern in einer globalisierten Welt kann man mit nationalen Kulturen nicht mehr viel anfangen. Entsprechend ist die Vielfalt ein ökonomischer Faktor geworden. Das widerständige Element – alle Menschen werden Brüder! – war Anfang des 20. Jahrhunderts etwas Progressives. Und jetzt wird es quasi von oben herab verordnet. Sie finden ja keine Werbung von keinem Unternehmen, in der nicht mindestens ein Schwarzer oder ein Araber oder irgendwer mit der größten Penetranz auftritt, und zwar weil es von ökonomischem Nutzen ist, weil es den Markt vergrößert, weil man weiß, die blonden Weißen sind gar nicht mehr genug Kunden. Eine Folge ist: Was sehr progressiv war, nämlich Grenzen zu überwinden, wird jetzt in weiten Teilen als etwas wahrgenommen, das dem Kapital dient. Und plötzlich werden Grenzen wieder attraktiv. Das einst Progressive wird nun als fremdbestimmt oder ökonomisch dominiert wahrgenommen. Und das Nationale steht plötzlich wieder im Vordergrund, nur um etwas entgegenzusetzen.


 

Europa ist kein Territorium, sondern eine Idee. Wir teilen die gleichen Werte. Aber das bedeutet nicht, dass wir alle gleich werden sollen.

Egon Zehnder: Was früher revolutionär war, ist heute Mainstream?

Navid Kermani: Ja, denken Sie zum Beispiel an Lessings »Nathan der Weise«. Das Stück hatte damals, im ausgehenden 18. Jahrhundert, eine unglaubliche Wucht. Es wurde verboten und konnte nicht aufgeführt werden. Damals war es undenkbar, dass auf einer deutschen Bühne ein Christ nicht so integer aussieht wie ein Jude und ein Muslim. Eine Revolution! Wenn dagegen heute auch in Unternehmen rauf und runter Toleranz gepredigt wird, hat das nichts Widerständiges mehr. Vor allem aber verdeckt es das Entscheidende: Ein hohles Gleichheitsgeschwafel überdeckt die ökonomischen Brüche, die ja nach wie vor existieren. Die Menschen sind hauptsächlich nicht geteilt durch schwarz, weiß oder rot, Mann oder Frau. Die eigentliche Bruchstelle ist noch immer die Ökonomie. Das gilt letztlich auch für die Migrationsbewegung. Wenn in Albanien ein Arzt weniger verdient als ein Hartz-IV-Empfänger in Deutschland, dann wird das einfach nicht gehen. Der Arzt wird immer versuchen, nach Deutschland zu kommen, dann veröden dort die Landstriche und so weiter. 

Egon Zehnder: Wo machen sie positive Impulse von Unternehmen in die Gesellschaft aus?

Navid Kermani: Zum Beispiel im Mittelstand. Ich war vor Kurzem wieder im Sauerland, früher ein Armenhaus. Heute kann man nur darüber staunen, wie viele mittelständische Unternehmen dort die Menschen in Lohn und Brot setzen. Diese Unternehmer, nicht selten Weltmarktführer, sind verankert in ihrer Region und fühlen sich verantwortlich für das Wohl und Wehe der Leute. Sie sind Vorbilder. Das wird von ihnen erwartet, und sie handeln gerne danach. So wächst das Vertrauen der Bevölkerung in das System. Die Frage ist, wie kann sich eine mittelständische Struktur behaupten in einer globalisierten, digitalisierten Welt? Ich weiß das auch nicht genau.

Egon Zehnder: Unternehmen können aber zu einer lebendigen Zivilgesellschaft beitragen?

Navid Kermani: Ja, aber die Zivilgesellschaft braucht ein gewisses Maß an ökonomischer Durchlässigkeit, auch an Gleichheit, jedenfalls an Chancengleichheit. Dem Arabischen Frühling, der ein großer Aufbruch für Demokratie und Menschenrechte war, fehlten zum Beispiel die ökonomischen Strukturen. Dann übernehmen automatisch starke Führer. Insofern ist es auch aus Sicht der Wirtschaft von enormem Eigeninteresse, auf diese Dinge zu achten. Fatal ist, wenn vor allem große Konzerne durch ihr Verhalten das System untergraben. Ihnen fehlt oftmals die Wertschätzung dafür, was ein politisch stabiles System, eine funktionierende Rechtsordnung, letztlich also auch die EU und die Währungsunion für einen unternehmerischen Nutzen haben.

Egon Zehnder: Herr Kermani, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Kurzbiografie

Der 1967 in Siegen geborene Navid Kermani ist ein deutscher Schriftsteller und habilitierter Orientalist mit persischen Wurzeln. In seinem Werk beschäftigt er sich immer wieder mit der untrennbaren Verflechtung von Orient und Okzident, der christlichen und islamischen Mystik, den Kriegen unserer Zeit, aber auch mit seinem Lieblingsverein 1. FC Köln. Kermani wurde mit zahlreichen Kultur- und Literaturpreisen geehrt, darunter der Kleist-Preis, der Joseph Breitbach-Preis und 2015 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien von ihm das Reportagebuch »Entlang den Gräben: Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan« (C.H. Beck). Kermani lebt in Köln.

Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Felix Brüggemann

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